Jeschiwa

Das erste Lehrhaus

In der Tradition des ersten Lehrhauses: Rabbiner Gershon Edelstein, Leiter der Ponovitz-Jeschiwa in Bnei Brak (Israel), hält eine Torastunde ab. Foto: Flash 90

Jeder, der sich mit der Heiligen Schrift beschäftigt hat, weiß, dass man den Tanach, die Hebräische Bibel, nur mithilfe der Kommentare unserer Weisen verstehen kann. Ohne die Überlieferung versteht man den Text entweder gar nicht – oder sogar falsch.

Jedoch können auch die Kommentare unserer Weisen manchmal nicht sofort verständlich sein. Wenn man die Geschichte von unserem Vorvater Jakow im Sefer Bereschit, dem ersten Buch Mose, liest, findet man im berühmten Kommentar von Raschi zur Tora gleich zwei merkwürdige Erklärungen, die mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten.

Raschi Am Anfang des Wochenabschnittes Wajeze steht in der Tora, dass Jakow sich auf dem Weg nach Charan hingelegt hatte (1. Buch Mose 28,11). Raschi bemerkt zu dieser Stelle: »An jenem Orte legte er sich nieder, aber während der 14 Jahre, die er im Hause Ewers sich lernend betätigte, hatte er sich nicht in der Nacht niedergelegt, sondern sich mit der Tora beschäftigt.«

Es stellt sich die Frage, um welches »Haus Ewers« es sich handelt. Am Anfang des Wochenabschnitts »Wajeschew« finden wir noch mehr Details zu diesem Thema (37,3): Die Tora erzählt uns, dass Jakow seinen Sohn Josef am meisten liebte. Wieder bemerkt Raschi etwas Merkwürdiges: »Onkelos übersetzt, er war ihm ein weiser Sohn, alles, was er von Schem und Ewer gelernt hatte, überlieferte er ihm.«

Hier erscheint außer Ewer zusätzlich auch noch Schem! Was hat Jakow denn gelernt, und warum brachte er diese Lehre nur einem seiner Söhne bei und nicht allen? Wer sind also diese Weisen Schem und Ewer, und was haben sie gelehrt?

Urenkel Laut der Tora (1. Buch Mose 7,13) war Schem einer von drei Söhnen Noachs. Ewer war Schems Urenkel (10,24). Sie waren beide sehr fromme und rechtschaffene Menschen, nämlich echte Noachiden – nicht nur als direkte Nachkommen des gerechten Noach, sondern auch, weil sie seine Lebensweise und den Glauben, für den Noach vor der Sintflut gerettet wurde, beibehalten haben.

Schem und Ewer haben die erste Jeschiwa (Lehrhaus) gegründet und dort unterrichtet. In diesem Lehrhaus hat nicht nur Jakow 14 Jahre gelernt, wie es Raschi in dem bereits zitierten Kommentar erwähnt, sondern, laut unseren Weisen auch sein Großvater Awraham Awinu.

Das berühmte kabbalistische Werk Sefer Jezira wird oft Awraham zugeschrieben. Unsere Weisen bemerken, dass Awraham dieses Buch direkt von G’tt bekommen hat. Jedoch verstand er das Werk erst nach drei Jahren intensiven Studiums bei Schem und Ewer richtig. Doch was wurde in dieser Jeschiwa gelernt, wenn die Tora doch erst viel später gegeben wurde?

Adam Unsere Weisen erklären, dass der erste Mensch, Adam, bereits vom Tag seiner Erschaffung an über das ganze Wissen von G’tt verfügte, das später durch die Tora in die Welt kam. Dieses Wissen hat er auch seinem Sohn Schet übergeben, und durch Schet kam es über mehrere Generationen zu Noach und von Noach zu Schem.

Diese Überlieferung war noch viel um­fangreicher als unsere mündliche Tora. Laut dem Talmud (Traktat Awoda Sara 14b) standen in Awrahams Traktat »Awoda Zara« 400 Kapitel, während wir in unseren Ausgaben des Babylonischen Talmuds in diesem Traktat »nur« fünf Kapitel finden. Kein Wunder, dass laut Überlieferung der Weisen (Joma 28b) unsere Vorväter, die allesamt Propheten waren, die gesamten Gesetze der Tora schon damals eingehalten haben.

Gericht Jedoch gehörte nicht nur die Lehre zum Betätigungsfeld von Schem und Ewer. Denn eines der sieben Noachidischen Gebote lautet: ein gerechtes Gerichtssystem aufzubauen. Eine Auslegung besagt, dass auch das Lehrhaus von Schem und Ewer als Noachidisches Gericht fungierte. Nach einer anderen Meinung hat die Angst vor diesem Gericht Esaw davon abgehalten, seinen Bruder Jakow nach seinem erschlichenen Erstgeburtssegen sofort zu töten.

Auch in anderen Angelegenheiten war dieses Lehrhaus durchaus gefragt. Unsere Weisen berichten, dass Riwka ausgerechnet in diesem Lehrhaus wichtige Informationen über ihre ungewöhnliche Schwangerschaft erhielt: Dort wurden ihr zwei große Völker, die von ihren Söhnen Esaw und Jakow abstammen sollten, vorhergesagt (1. Buch Mose 25,23).

Raawad (Rabbeinu Abraham ben David, circa 1125–1198) stellt folgende Frage: Wenn Schem und Ewer solche großen Zaddikim und Gelehrten waren, warum entstand das jüdische Volk nicht direkt aus ihnen, sondern erst aus ihrem Schüler Awraham?

Die Antwort lautet: Weil sie zu passiv waren. Sie saßen in ihrem Lehrhaus und lernten ruhig G’ttes Weisheit. Wenn Menschen zu ihnen kamen (wie Awraham und Jakow), dann lehrten sie diese Schüler die Tora. Wenn jedoch niemand zu ihnen kam, war es für sie auch in Ordnung. Sie lernten einfach weiter und fällten rabbinische Urteile.

Spiritualität Doch Awraham war anders: Er hatte verstanden, dass es nicht genug ist, nur mit seiner eigenen Spiritualität beschäftigt zu sein – sondern man muss aktiv sein und die Menschen beeinflussen. Awraham stand auf gegen Götzendienst und die Verrohung der Gesellschaft und inspirierte seine Verwandten und Bekannten, auf G’ttes Wegen zu gehen und die Noachidischen Gebote zu befolgen. Deshalb wurde Awraham auserwählt, um das jüdische Volk zu gründen.

Auch das ist eine wichtige Lehre für uns. Es ist schön und gut, in einem Lehrhaus zu sitzen und zu lernen, ohne sich vom Straßenlärm ablenken zu lassen. Jedoch ist es nicht das, was G’tt von uns erwartet. Wir müssen nicht nur unsere eigene Spiritualität steigern, sondern uns auch um unsere Nächsten kümmern.

Der Lubawitscher Rebbe hat einmal gesagt, dass ein Mensch, auch wenn er nur das Alef-Bet kennt, dieses Alef-Bet anderen Juden beibringen soll, die nicht einmal das kennen. Wenn wir diese Idee verinnerlichen und umsetzen, dann haben wir die spannende Geschichte vom ersten Lehrhaus der Menschheit nicht umsonst gehört.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Korban Pessach

Schon dieses Jahr in Jerusalem?

Immer wieder versuchen Gruppen, das Pessachopfer auf dem Tempelberg darzubringen

von Rabbiner Dovid Gernetz  22.04.2024

Pessach

Kämpferinnen für die Freiheit

Welche Rolle spielten die Frauen beim Auszug aus Ägypten? Eine entscheidende, meint Raschi

von Hadassah Wendl  22.04.2024

Essen

Was gehört auf den Sederteller?

Sechs Dinge, die am Pessachabend auf dem Tisch nicht fehlen dürfen

 23.04.2024

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024