Organspende

Eine schwere Entscheidung

Seit 2012 geht die Zahl der Organspenden in Deutschland zurück. Um mehr Menschen dafür zu gewinnen, müssen auch die Argumente ernst genommen werden, die dagegen sprechen. Foto: Thinkstock

Die Transplantation von Spenderorganen ist längst eine anerkannte Therapieoption bei Organversagen. Allein in Deutschland wurden zwischen 1963 und 2012 insgesamt 116.650 Organe transplantiert. Als aber spätestens 2012 bekannt wurde, dass einzelne Transplantationszentren systematisch gegen die strengen Richtlinien der Transplantationsmedizin verstoßen hatten, geriet die Transplantationsmedi-zin in eine tiefe Vertrauenskrise.

Seither ist die Zahl der Organspenden stark rückläufig. Trotz allgemeiner Zustimmung in der Bevölkerung und theoretischer Bereitschaft zur Organspende stehen für eine stetig zunehmende Zahl Kranker immer weniger Spenderorgane zur Verfügung, mit denen ihnen geholfen werden könnte.

Nachdem die lückenlose Aufklärung der Manipulationen und die Einführung zusätzlicher Kontrollen offenbar das zerrüttete Vertrauen in die Transplantationsmedizin nicht wiederherstellen konnten, suchte man neue Wege, um etwas gegen den anhaltenden »Organmangel« zu tun.

Krankenkassen Seit der Verabschiedung des »Gesetzes zur Regelung der Entscheidungslösung im Transplantationsgesetz« im Herbst 2012 schreiben nun alle Krankenkassen regelmäßig ihre Versicherten an und fragen, ob sie im Falle ihres Hirntodes Organe spenden würden.

Man will auf diese Weise all jene erreichen, die aus bloßer Bequemlichkeit noch keinen Organspendeausweis haben. Hinzu kommen zahlreiche Appelle von den verschiedensten Seiten, die allesamt die Organspende als moralische Pflicht darstellen. Zunehmend werden Zweifel am Modell der freiwilligen altruistischen Spende geäußert, indem man die Entscheidungslösung durch die Widerspruchslösung ersetzen will.

Ob man damit aber Sorgen und Befürchtungen nehmen kann, ist fraglich. Das Unbehagen und die Zweifel, die viele Menschen beim Thema Organspende spüren, haben vielfältige Gründe. Es sind nicht nur die inzwischen aufgearbeiteten »Transplantationsskandale«.

Zu sehr wird verharmlost und bagatellisiert, dass eine Organspende für den Spender und seine Familie tatsächlich ein großes Opfer ist. Zu wenig werden die Sorgen und Ängste potenzieller Spender ernst genommen, zu sehr dagegen der Blick allein auf die Empfänger gerichtet.

Und auch, wenn noch so drastisch vor Augen geführt wird, wie verzweifelt ein Kranker auf sein rettendes Spenderorgan wartet, wird damit nicht automatisch einem potenziellen Spender seine Angst vor der Vorstellung genommen, zum Zeitpunkt der Organentnahme nicht wirklich tot zu sein – oder die Befürchtung, dass die Organspende eine zu große Belastung für seine Angehörigen werden könnte.

Der Rückgang der Bereitschaft zur Organspende hat seinen Grund nicht darin, dass es in der Bevölkerung Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Transplantation als Therapie von Organversagen gäbe. Aber es gibt Zweifel daran, dass der Hirntod tatsächlich das Ende des Lebens ist, und daran, ob eine Organspende mit einem würdevollen Sterben vereinbar ist.

Misstrauen Das Grundgefühl von Misstrauen, Unsicherheit und die sich beigesellenden häufigen Missverständnisse und Gerüchte in der gesellschaftlichen Diskussion um den Hirntod erinnern an Ängste, die Ende des 18. Jahrhunderts viele bewegten, die fürchteten, scheintot beerdigt zu werden.

Vor allem im Judentum wurde damals intensiv zu dieser Scheintoddebatte gestritten. Die Frage war, ob man von der halachisch vorgeschriebenen frühen Bestattung abkommen sollte, um der Gefahr zu entgehen, scheintot beerdigt zu werden.
1787 publizierte der jüdische Arzt und Aufklärer Marcus Herz in seinem Pamphlet Über die frühe Beerdigung der Juden eine Beschreibung des Sterbeprozesses, die uns heute helfen kann, das Problem des Hirntodkonzepts zu verstehen.

Dort heißt es: »Der Tod ist der entgegengesetzte Zustand des Lebens; und der Übergang des Körpers aus dem einen in den anderen geschieht, wie jede Veränderung in der Natur, nie plötzlich durch einen Sprung, sondern allmählich. Das Leben nimmt in kleinen Graden immer mehr ab, bis es endlich aufhört. Nun erkennen wir zwar diese Abnahme überhaupt an gewissen Zeichen durch unsere Sinne; aber die vorletzten, dem völligen Aufhören nahen Grade des Lebens sind schon für uns unmerklich; denn um der Natur in solchen unendlich kleinen Veränderungen zu folgen, müssten unsere Sinne eine unendliche Schärfe besitzen.«

Weiter schrieb der Mediziner: »Da wir nun in keinem einzelnen Fall im Voraus bestimmen können, wie lange die Natur auf einer einzigen Mittelstufe zwischen Leben und Tod sich verweilt; so müssen wir, da wir die letzten, dem Tode nahen Stufen nicht unterscheiden können, der Gefahr ausgesetzt sein, das kleinste Leben für den völligen Tod zu halten.«

Sterbeprozess Marcus Herz beschreibt präzise, dass der Tod kein mit einem Mal eintretendes Ereignis, sondern dass Sterben ein Prozess ist. Wir wissen, dass die moderne Intensivmedizin diesen Sterbeprozess stark beeinflussen kann. Heute spricht man vom dissoziierten Tod und meint damit, dass die verschiedenen Organe zu unterschiedlichen Zeitpunkten absterben. Erst wenn alle Organe tot sind, ist der Mensch eindeutig als toter Mensch, als Leiche, erkennbar.

Die Definition, wonach alleine der unumkehrbare Tod des Gehirns als Tod des ganzen Menschen gilt, auch wenn der Kreislauf noch funktioniert, ist nicht für jeden nachvollziehbar. Vor einer Organentnahme, etwa zur Herztransplantation, muss man sichergehen, dass der Spender tot ist. Zur Transplantation kommen aber nur Organe infrage, die noch durchblutet sind.
Im Judentum gilt der Sterbende, der Gosses, unbedingt als Lebender und ist in jeder Hinsicht wie ein solcher zu behandeln.

Daher lehnten es die halachischen Autoritäten lange ab, einen Hirntoten, dessen Herz noch schlägt, als tot zu bezeichnen.
Mitte der 80er-Jahre gab es einen Paradigmenwechsel: Der orthodoxe Rabbiner Mosche Feinstein (1895–1986) erkannte die Hirntodkriterien der Harvard-Kommission an, die Hirntod und Tod gleichsetzen. Ab da erschienen ihm die Methoden der Hirntoddiagnostik als so zuverlässig, dass für ihn die Diagnose des Hirntods bei einem Menschen – und damit sein Tod – so sicher war, wie es bei einem geköpften Menschen der Fall wäre.

Hirnfunktion Die Feststellung des unumkehrbaren Ausfalls der gesamten Hirnfunktion gilt seither für viele Rabbiner als wissenschaftlicher Nachweis des Todes. Das Gehirn erbringt schließlich für den Gesamtorganismus als Steuerungszentrale die Integrationsleistung, ohne die der Mensch nicht als leiblich-seelische Einheit existieren kann. Erlöschen die Hirnfunktionen unwiederbringlich, fallen nachfolgend alle Organfunktionen aus, und der menschliche Körper zerfällt.

Soweit keine intensivmedizinischen Maßnahmen ergriffen werden, schreitet der durch den Ausfall der Hirnfunktionen ausgelöste Zerfallsprozess bis in jede einzelne Zelle des Körpers fort.

Die Gleichsetzung von Hirntod und Tod bleibt aber eine Herausforderung, zumal vermehrt infrage gestellt wird, ob tatsächlich nur das Gehirn Integrationsleistungen des Körpers erbringt. Schließlich weisen künstlich beatmete hirntote Menschen noch zahlreiche Funktionen auf, die auf körperliche Integrationen hindeuten: Es findet bei ihnen Wundheilung statt, bei hirntoten Kindern sind Wachstum und sexuelle Reifung zu beobachten, und hirntote Schwangere können ihre Schwangerschaft aufrechterhalten.

Man muss die Kritiker ernst nehmen, die fragen, ob tatsächlich all diese Funktionen bei Hirntoten das Lebendigsein bloß vortäuschen oder ob sie Ausdruck des Lebendigen sind.
Rabbiner Nathan Peter Levinson wies 1970 in der Debatte um die Zulässigkeit von Herztransplantationen und in Bezug auf die Hirntoddebatte darauf hin, dass das Judentum ein Leben, nur weil ihm die bewusste Interaktion mit der Umwelt fehlt, nicht weniger als Leben zählt, und dass das Judentum auch der rein leiblichen Komponente des Lebens und den letzten Augenblickes des Lebens im Sterbeprozess eine unverminderte Wertschätzung schenkt.

Halacha Da wir im Judentum prinzipiell zum Retten und Erhalten von Leben verpflichtet sind und diese Verpflichtung über fast allen anderen religiösen Verpflichtungen steht, müssen wir uns Gedanken darüber machen, wie wir uns persönlich zur Organspende positionieren. Das Problem dabei ist, dass die Halacha ausdrücklich das Beschleunigen des Sterbeprozesses als Tötung versteht, die mit der Verpflichtung, Leben zu retten, nicht legitimiert wird.

Es darf kein Leben verkürzt werden, um ein anderes zu retten. Jeder muss für sich selbst Klarheit darüber gewinnen, wie er die Halacha und wie er Tod und Sterben versteht. Die Entscheidung für oder gegen Organspende ist eine höchst persönliche Angelegenheit – und muss dies auch immer bleiben.

Jemand, der in einem hirntoten Menschen einen Sterbenden sieht und der Halacha darin folgt, dass der Sterbende in jeder Hinsicht wie ein Lebender zu betrachten sei, und für den deshalb die Entnahme seiner Organe Blutvergießen ist, darf nicht als »irrationaler Spinner« abgetan werden. Seine Entscheidung ist zu akzeptieren.

Wer aber sagt, dass für ihn der Hirntod mit dem Tod gleichzusetzen sei und es nur die Maßnahmen der Intensivmedizin sind, die den eigentlich toten Körper lebendig erscheinen lassen, und für den die Spende seiner Organe die Erfüllung einer der größten Mizwot ist, verdient allen Res­pekt.

Der Gedanke, über den eigenen Tod hinaus anderen helfen zu können, kann im Angesicht des eigenen Todes Sinn geben und tragen. Dass der Spender dafür das große Opfer bringt, nicht im Beisein seiner Liebsten und in Ruhe zu sterben, sondern auf der Intensivstation und im Operationssaal, verpflichtet uns zu höchster Achtung und Dankbarkeit. Hiervon müssen wir sprechen, wenn wir über Transplantationsmedizin reden.

Der Autor ist Palliativmediziner am Klinikum Bielefeld und Mitglied der Jüdischen Kultusgemeinde Bielefeld »Beit Tikwa«.

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