Nasir

Enthaltsamkeit ist keine Zier

Warum das Judentum nicht viel davon hält, aus Prinzip auf Materielles zu verzichten

von Shimon Lang  18.05.2018 11:10 Uhr

Im Judentum gibt es nur »Mönche auf Zeit«. Hier ein Sadhu in Indien, der das weltliche Leben dauerhaft aufgegeben hat Foto: imago/Westend61

Warum das Judentum nicht viel davon hält, aus Prinzip auf Materielles zu verzichten

von Shimon Lang  18.05.2018 11:10 Uhr

In diesem Wochenabschnitt gibt die Tora Anweisung, wie man ein freiwilliges Nasir-Gelübde auf sich nehmen kann. Es beinhaltet für eine vorher festgelegte Zeit einige Einschränkungen wie das Verbot, Wein zu konsumieren und sich die Haare zu schneiden.

Zudem darf sich der Nasir, ähnlich wie der Hohepriester, nicht verunreinigen. Sogar wenn seine Verwandten sterben, darf er sich nicht in ihrer Nähe aufhalten. Am Ende der Frist muss der Nasir seine Haare schneiden und diverse Opfer darbringen. Nach Beendigung dieses Rituals darf er sich wieder die Haare schneiden lassen und Wein trinken.

sündopfer Eine Person wird während der Zeit, in der sie Nasir ist, als jemand betrachtet, der eine höhere geistige Stufe erklommen hat, bei freiwilligem Verzicht auf bestimmte materielle Dinge. Deswegen ist es umso erstaunlicher, dass die Tora den Nasir dazu verpflichtet, ein Sündopfer (Chatat) darzubringen. Warum ein Sündopfer? Ist das Nasirsein nicht etwas Erstrebenswertes, das überdies Lob verdient?

Anders als in vielen anderen Religionen wird im Judentum das Materielle nicht als etwas betrachtet, das geistigem Wachstum im Weg steht. Beides sind keine Widersprüche. Vielmehr sollte es Ziel sein, dem Materiellen eine geistige Komponente zu verleihen. Der materielle Konsum sollte also einem höheren Zweck dienen.

Deshalb sind Konzepte wie das Zölibat dem Judentum fremd. Die Ausübung und das Ausleben von Bedürfnissen sind in kontrolliertem Maß förderlich oder werden gar verlangt, um Gottes Gebote in seiner Vollständigkeit erfüllen zu können.
So kann der Konsum von Wein die göttliche Arbeit gewissermaßen bereichern, indem er uns zum Beispiel einen leichteren Zugang zu unserem Innenleben und zu unseren Emotionen ermöglicht.

wein Am Schabbat, an Feiertagen oder bei Familienfeiern wie Hochzeiten oder der Beschneidung spielt Wein eine zentrale Rolle. Wenn aber der Konsum von Wein nur einen Selbstzweck verfolgt, entkoppelt von höheren geistigen Zielen, verändert dies den Menschen in negativer Weise, und er wird zum triebgesteuerten Wesen.

Gott hat die Welt erschaffen, damit der Mensch sie genießen kann. Sich dem zu enthalten, weil man seine eigenen Schwächen kennt und sich eingesteht, ist auf eine Art heilig, aber nicht das Ideal. Und selbst ein Nasir darf das Ideal nicht aus den Augen verlieren. Nasir zu sein, kann eine Brücke zu einer höheren geistigen Stufe sein, aber es ist nicht die ultimative Form des Judentums.

Über das Ende des Zeitraums, in dem eine Person Nasir ist, steht in der Tora explizit: »Und erst danach darf der Nasir Wein trinken.« Warum steht dieser anscheinend überflüssige Satz da? Es ist doch klar, dass dieser Mensch nun Wein konsumieren darf – er ist ja jetzt kein Nasir mehr.

Die Antwort lautet, dass eben dies die Botschaft ist: Der Nasir wurde nicht zu einem, der sich enthält um der Abstinenz willen. Sondern er soll sich selbst eine Lektion erteilen, wie Wein idealerweise konsumiert werden soll: Der Konsum sollte nämlich so zweckgebunden wie möglich sein.

segen Gott manifestiert sich auch in der physischen Welt. Deshalb klassifiziert es der Talmud als Diebstahl, wenn man ein Nahrungsmittel ohne Bracha, oh­ne Segensspruch, zu sich nimmt. Der Genuss eines Apfels ist die Form einer Manifestation des Geistigen und muss auch dementsprechend gewürdigt werden.
Das Kopfhaar symbolisiert die Verbindung zwischen einer Person und dem höher stehenden geistigen Dasein. Solange die Haare ordentlich sind, manifestieren sie das gewünschte Gleichgewicht zwischen beiden Dimensionen. Die Priester und Könige mussten bei ihren Tätigkeiten immer ordentliche Frisuren tragen, um den Dienst antreten zu dürfen.

Die langen Haare spiegeln das Ungleichgewicht des Nasirs wider. Die Ordnung zwischen dem Geistigen und dem Materiellen ist in Schieflage geraten. Nach der Beendigung des Nasirseins werden die Haare geschnitten, und es kann zu einem Neuanfang kommen.
Vielleicht ist es nicht ganz zufällig, dass sich der Abschnitt über den Nasir in derselben Parascha wie die Opfergaben der Nessi’im, der Vorsitzenden der einzelnen Stämme, befindet.

Obwohl sie identisch sind, listet die Tora die Opfergaben eines jeden Stammesfürsten (Nassi) einzeln auf. Warum wird jeder einzeln aufgelistet, wenn alle Opfergaben gleich sind? Es wird seinen Grund haben. Denn die Tora ist dafür bekannt, keine überflüssigen Buchstaben, Wörter oder geschweige denn ganze Textpassagen zu enthalten.

Spiritualität Basierend auf der Rolle des Physikalischen als Manifestation des Geistigen könnte man dies vielleicht wie folgt erklären: Weil die Opfergaben nichts anderes als eine Sichtbarmachung des Spirituellen sind, ist jede Opfergabe eine andere.

Die spirituellen Handlungen, obwohl sie gleich aussehen, sind bei jedem anders, da das individuelle Denken und die Absichten die Tat färben. Zwei Menschen können beten, und obwohl sie dieselben Wörter sagen, sind es zwei völlig unterschiedliche Gebete. Die zwölf einzelnen Opfergaben sind objektiv betrachtet identisch. Da sie aber nur eine Manifestation des Geistigen und der Intention sind, müssen sie als grundlegend verschieden betrachtet werden. Deshalb stellen sie auch keine Wiederholung dar.

Mit der Botschaft des Nasirs, gekoppelt mit der scheinbaren Wiederholung der Opfergabe der Nessi’im, lehrt uns die Tora, mit welcher Lebenseinstellung wir dem Alltag begegnen können: Das Judentum ist in höchstem Maße individuell. Jede unserer Interaktionen mit der Welt enthält das Potenzial, es zu etwas Spirituellem beziehungsweise zu individueller Spiritualität zu transformieren. Es ist jeweils eine neue und wiederholte Gelegenheit, es in unser spirituelles Wachstum einfließen zu lassen. Somit wird das Judentum, trotz kollektiver Ausübung, zu unserer sehr persönlichen Religion.

Der Autor hat an Jeschiwot in Jerusalem und in Eng­land studiert. Seit einigen Jahren arbeitet er als Psychologe in Osnabrück.

Paraschat Nasso
Der Wochenabschnitt setzt die Aufgabenverteilung beim Transport des Stiftszelts fort. Es folgen Verordnungen zum Zelt und ein Abschnitt über Enthaltsamkeits­gelübde. Dann wird der priesterliche Segen übermittelt. Den Abschluss bildet eine Schilderung der Gaben der Stammesfürsten zur Einweihung des Stiftszelts.
4. Buch Mose 4,21 – 7,89

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