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Alltäglicher Hass

Öffentliches Outing einer jüdischen Schülerin kann auch Antisemitismus sein. Foto: Thinkstock, Illustration: Marco Limberg

Im vergangenen Jahr gab es in Deutschland laut eines Berichts des Berliner »Tagesspiegel« 27 Angriffe auf Synagogen und 20 Fälle von Beschädigungen auf jüdischen Friedhöfen. Das ergeben die Zahlen der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (Linke). Die meisten Angriffe auf Synagogen meldete Nordrhein-Westfalen. Das kann auch die Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Gelsenkirchen, Judith Neuwald-Tasbach, bestätigen. Die Atmosphäre sei beängstigend, sagt sie und erzählt von einem Vorfall im Januar.

Gelsenkirchen Nach dem Gottesdienstbesuch habe ein Beter vergessen, seine Kippa abzunehmen, und sei auf der Straße übel beschimpft worden. »Gemeindemitglieder bitten darum, keine Gemeindepost zugeschickt zu bekommen, denn darauf ist das Logo der Gemeinde abgebildet.« Es ist weit gekommen. Kinder werden in der Schule als »Du Jude« angepöbelt. »Es sind neue Unbelehrbare, die im Fahrwasser der AfD keine Scheu mehr haben, Dinge auszusprechen, die sie vor dem Erstarken der rechtspopulistischen Partei nicht auszusprechen wagten«, sagt Neuwald-Tasbach. Und viele der Akteure hätten einen Zuwanderungshintergrund, sagt sie.

Darüber hinaus mangele es vielen an Zivilcourage. »Sie sehen und hören alles und schreiten nicht ein.« Viele haben Angst, den Verbalattacken nicht gewachsen zu sein oder selbst angegriffen zu werden. »Sie sind sich auch nicht bewusst, dass Antisemitismus die ganze Gesellschaft zerstört und nicht nur den vermeintlich kleinen Kreis von Juden angreift«, sagt Neuwald-Tasbach. Sie macht mangelndes Wissen dafür verantwortlich. Die Leute erkennen die Spielarten des Antisemitismus nicht und wissen nicht, wie sie mit Hassattacken umgehen sollen. Lehrer werden in der Schule alleingelassen, wenn Schüler andere Schüler antisemitisch attackieren. »Hier muss unbedingt etwas getan werden«, sagt die Gelsenkirchener Gemeindevorsitzende und meint daher, dass ein Antisemitismusbeauftragter beim Bildungsministerium angedockt werden muss.

Besser seien regionale Stellen, wo antisemitische Vorfälle angezeigt werden könnten und die direkt mit dem Schulamt, der Stadt und der Polizei verbunden sein müssten, damit diese alles erfahren. »Wir sind an einem Punkt angekommen, wo schnell gehandelt werden muss«, sagt die Gemeindevorsitzende. Außerdem sei Prävention durch Bildung ungeheuer wichtig, »auf allen Ebenen«, so Neuwald-Tasbach.

Niedersachsen »Wir haben im vergangenen Jahr keine Vorfälle zu verzeichnen, aber wenn, kommunizieren wir sie sofort«, sagt Michael Fürst. Er halte sich auch zurück, laut »Antisemitismus!« zu rufen, wenn Jugendliche auf dem jüdischen Friedhof mal einen Stein umstoßen. »Das ist sehr gefährlich«, sagt der Vorsitzende des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Niedersachsen. Aber auf jeden Fall gehe man den Vorfällen nach, so sie denn auftreten.

Dass es in Hannover und in Niedersachsen kaum muslimischen Antisemitismus gibt, führt Fürst auf den ständigen Austausch mit DITIB- und SCHURA-Gemeinden zurück. »Wir sprechen es offen an und sagen: ›Leute, macht eine bessere Jugendarbeit!‹« Mit Beschwichtigungsversuchen à la Aiman Mazyek, dem Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime, gibt sich Fürst nicht zufrieden.

Rechte Gruppierungen, die sich vor allem in den nordöstlichen Landkreisen Lüneburg, Uelzen, Harburg, Lüchow-Dannenberg und dem Heidekreis gruppierten, seien »merkwürdig zurückhaltend«, sagt Fürst. Allerdings sei die AfD in Niedersachsen auch nicht die stärkste Gruppierung, sodass rechte Akteure von daher weniger Anregungen bekämen.

Nordrhein »Man sollte nicht so tun, als sei der Antisemitismus erst mit den Flüchtlingen ins Land gekommen«, sagt Michael Rubinstein, Geschäftsführer des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden von Nordrhein. »Ich bin 1978 eingeschult worden und bekam in der vierten Klasse, also in der Grundschule, von einem anderen Kind an den Kopf geworfen: ›Euch hätte man damals mitvergasen sollen.‹«

Juden- und israelfeindliche Beleidigungen sind heute in den Schulen allerdings sehr viel häufiger geworden, weiß Rubinstein. Bei einer Veranstaltung in der Religionsschule der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf im Mai vergangenen Jahres hatten jüdische Gymnasiasten in Anwesenheit des israelischen Botschaftsgesandten Rogel Rachman von ihren Erfahrungen berichtet. Dazu gehören Hitler-Witze, antisemitisch konnotierte Bemerkungen, angeblich satirisch gemeinte judenfeindliche Bilder und Sprüche.

Derartige Übergriffe, so die Schüler übereinstimmend, hätten in letzter Zeit »dramatisch« zugenommen – wobei sie nicht nur von Mitschülern kämen. Auch von Lehrern würden sie häufig für die israelische Politik mitverantwortlich gemacht. Als Konsequenz aus den Schilderungen der Jugendlichen hatte das Schulverwaltungsamt Lehrerfortbildungen zu Themen wie interkulturelle Sensibilität und Antisemitismus angekündigt.

Die Politik unternehme durchaus etwas. »Wir haben im März bei einem Gespräch mit dem nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Armin Laschet unter anderem angesprochen, dass NRW einen Antisemitismusbeauftragten oder zumindest eine Kommission benötigt und sind damit durchaus auf offene Ohren und Zustimmung in unserer Einschätzung zum Antisemitismus gestoßen«, sagt Rubinstein. Er betont: »Unsere Sorgen werden ernst genommen, was ein sehr wichtiges Signal der Landespolitik an uns ist.«

baden-Württemberg Trotz eines Antisemitismusbeauftragten in Baden-Württemberg, so betont Irina Katz, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Freiburg, sei es auch vor Ort wichtig, gegen Antisemitismus aktiv zu werden, denn »die Zahl der antisemitischen Beleidigungen und Übergriffe hat zugenommen«.

Bei einem Netzwerktreffen im vergangenen Oktober 2017 zum Thema Antisemitismus hatte die ehemalige Jugendleiterin Anna Nedlin-Lehrer berichtet, dass jüdische Kinder und Jugendliche an Freiburger Schulen regelmäßig Mobbing erleben, beleidigende Facebook-Messages bis hin zu Gewaltdrohungen und tatsächlicher Gewalt. »Das waren erschreckende Nachrichten«, erinnert sich Katz, zumal die Kinder ihr Jüdischsein aus Angst oft versteckten und »sich beispielsweise in der Schule nicht zum jüdischen, sondern zum evangelischen oder katholischen Religionsunterricht anmelden, damit niemand merkt, dass sie Juden sind«. Die Übergriffe gingen besonders von muslimischen Mitschülern aus, aber auch Lehrer machten zumindest unsensible Bemerkungen.

Katz wandte sich an die Politik. Im Januar wurde die Gemeinde zu einem Jour fixe ins Rathaus eingeladen, eine Arbeitsgruppe hatte sich bereits gebildet. »Es werden Stadtführungen für Schulen zum Thema Antisemitismus stattfinden, das städtische Museum und die Gemeinde werden sie gemeinsam erstellen.« Außerdem sollen Lehrerfortbildungen dafür sorgen, dass die Pädagogen sensibilisiert werden. Antisemitische Übergriffe gebe es auch im Umfeld der Synagoge. Beter würden von den Nachbarn antisemitisch beschimpft.

Das größte Problem sei aber der muslimische Antisemitismus, »die Ängste der Gemeindemitglieder sind natürlich da«, konstatiert Katz. »Wir brauchen einfach eine bessere Integration.« Gleichzeitig betont sie: »Wir haben nichts gegen Flüchtlinge, viele von uns haben ja selbst Krieg erlebt und sind als Kontingentflüchtlinge hergekommen, wir wissen, wie das ist, in einem fremden Land neu anzufangen.«

»Man muss schon sagen: Das ging schnell«, freut sich Katz, »vor einigen Monaten wurde das Problem noch nicht wahrgenommen, weil viele Nichtjuden sich nicht vorstellen konnten, dass es im beschaulichen, bunten Freiburg existieren könnte – und jetzt haben wir schon ein finanziertes Programm.«

Wiesbaden »Wir sind nicht dafür da, Statistiken zu liefern«, sagt Jacob Gutmark, Vorstandsvorsitzender der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden, denn er weiß, wenn sie sich als Juden und Jüdische Gemeinde offener gäben, würden sie auch mehr Antisemitismus »provozieren«. Man verhalte sich also möglichst unauffällig.

Geschäftsführer Steve Landau ergänzt Beispiele aus der Schule. Seit diesem Schuljahr gibt es einen jüdischen Religionslehrer an zwei städtischen Gymnasien. Der Unterricht fände guten Anklang auch bei nichtjüdischen Schülern, aber ein Zeugnis darüber wollen einige nicht haben, weil darauf »Jüdische Religionslehre« vermerkt sei. Sie haben Angst vor Repressalien.

Der Kontakt zur Polizei, zu gesellschaftlichen Institutionen, zur Landespolitik sei gut, die Sicherheit gewährleistet, die Polizei stehe vor der Tür, aber der alltägliche Antisemitismus habe zugenommen, meint Gutmark. Die Gemeinde rücke aus Sorge wieder näher zusammen. Und ein weiteres Phänomen käme hinzu, sagt Gutmark. »Menschen kommen zu uns und beschweren sich, sie würden antisemitisch angepöbelt oder als Juden bezeichnet, obwohl sie es gar nicht sind.« Sie wenden sich an die Jüdische Gemeinde, weil es keine andere Beschwerdestelle gibt. Die hessische Landesregierung denke aber darüber nach, die Stelle eines Antisemitismusbeauftragten einzurichten. »Die Gesellschaft ist in der Pflicht, nicht wir als Betroffene«, sagt Gutmark.

Geschmacklos sei auch das Outing durch eine Lehrerin, wie es Steve Landau erlebt hat. Eine Schulklasse, erzählt er, habe sich die Synagoge angeschaut, und zum Abschluss habe die Religionslehrerin fast stolz gesagt, »und die Myriam (Name geändert), die ist auch Jüdin, und die ist an unserer Schule«.

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