Mizwa

Countdown bis zur Offenbarung

Wir zählen die Dauer des Schwingopfers, obwohl der Tempel in Jerusalem nicht mehr steht. Foto: Thinkstock

Vor vielen Jahren, als ich noch kein Rabbiner war, kam ich zum ersten Mal an Pessach nach Antwerpen. Ich dachte damals, dass ich schon alle Bräuche rund um Pessach kenne, jedoch wurde ich überrascht und erfuhr etwas völlig Neues. Nach dem Ende des zweiten Seders (die Nacht, in der man mit dem Omerzählen beginnt) standen plötzlich alle Männer, die am Seder bei meinem Gastgeber teilgenommen hatten, auf und begannen sich anzuziehen. Mein Gastgeber sagte mir, dass ich mich auch anziehen solle, denn wir würden gleich zur Synagoge gehen, um Sfirat HaOmer (Omerzählen) zu sagen.

Jetzt? Zur Synagoge? Es war kurz nach zwei Uhr nachts! Und nur, um ein paar Worte zu sagen? Ich war zuerst nicht sicher, ob mein Gastgeber Witze machte, doch es war ernst gemeint, und wir gingen tatsächlich zu einer Synagoge. Dort war es sehr lebendig. Männer und Jungen kamen einer nach dem anderen, bildeten schnell einen Minjan, zählten innerhalb fünf Minuten »Omer« und gingen, und ihren Platz nahm gleich der nächste Minjan ein.

Eigentlich braucht man für das Omerzählen keinen Minjan, jedoch war dieses Zusammenkommen in tiefer Nacht, nach einem langen erfüllten Pessachseder, sehr beeindruckend. Doch was ist Omerzählen eigentlich für ein Gebot, und welche Relevanz hat es noch in unserer Zeit?

SChwingopfer Die Quelle dafür finden wir in der Tora im 3. Buch Mose (23, 15–16): »Und ihr sollt zählen vom andern Tage nach der Feier an, von dem Tage, da ihr gebracht das Omer der Schwingung, (dass es) sieben volle Wochen seien. Bis zum andern Tage nach der siebenten Woche sollt ihr 50 Tage zählen …«
So wird uns hiermit befohlen, sieben Wochen lang zu zählen, vom Tage des Darbringens des Omeropfers am 16. Nissan bis zum Schawuotfest, dem 50. Tag nach der Darbringung des Omer. Man beginnt in der zweiten Nacht des Pessachfestes, und so zählt man sieben Wochen lang, 49 Tage. (»50 Tage« wird von unseren Weisen »bis zum 50. Tag« ausgelegt.)

Jedoch gibt es heute weder den Tempel noch das Omeropfer. Warum müssen wir trotzdem Omer zählen? Unsere Weisen geben mehrere Antworten auf diese Frage. Die bekannteste Antwort stammt wohl aus dem »Sefer HaChinuch« (13. Jahrhundert, Spanien): »Größer noch als die Befreiung aus der Sklaverei war das Endziel, die Tora am Berg Sinai zu empfangen. Darum sind wir verpflichtet, vom zweiten Tag von Pessach an bis zum Tage, an dem die Tora gegeben wurde, zu zählen, um unserem Sehnen nach diesem großen Tag Ausdruck zu verleihen, so wie ein Sklave sich bei harter Arbeit unter starker Sonne nach Schatten sehnt.«

Nach dieser Erklärung stellt sich jedoch die Frage, warum wir aufsteigend zählen (1. Tag nach Omer, 2. Tag und so weiter), und nicht abwärts (noch 49 Tage bis zum Empfang der Tora, noch 48 Tage). Denn normalerweise, wenn man auf ein freudiges Ereignis wartet, zählt man die verbleibenden Tage bis zu diesem Ereignis, und nicht umgekehrt.

Stufen Auch dafür gibt es viele Erklärungen. Im Buch Das jüdische Jahr von Rabbiner Eliahu Kitov kann man folgende Erklärung im Namen von »Zohar Chadasch« finden: »Als Israel noch in Ägypten lebte, befleckte es sich durch die vielen Unreinheiten der Ägypter, bis sie zur 49. Stufe der sittlichen Unreinheit sanken. Deshalb zählen wir 49 Tage, weil Israel in dieser Zeit jeden Tag eine Stufe emporstieg und sich damit von ägyptischer Unreinheit reinigte.«

Jedoch sagen dazu unsere Weisen, dass dieses System kein Selbstläufer ist. Um einen Tag zu einer Stufe zu machen, reicht es nicht, einfach zu zählen. Dazu gehört auch Arbeit am eigenen Charakter, Bemühungen, sich zu ändern und zu verbessern.
Im Namen des großen Kabbalisten Arizal (Rabbi Isaak Luria, 1534–1572) wird überliefert, dass unsere Welt durch sieben Sefirot (Kanäle) von G’tt geführt wird. Diese Sefirot sind Chessed (Liebe), Gewura (Stärke), Tiferet (Herrlichkeit), Nezach (Ewigkeit), Hod (Pracht), Jessod (Fundament) und Malchut (Königreich).

Jede Sefira beinhaltet in sich weitere sieben, und so entstehen 49 Kombinationen von Sefirot (zum Beispiel Chessed in Chessed, Gewura in Chessed und so weiter). Wenn man jeden Tag an einer von diesen Kombinationen von Sefirot »arbeitet« und sie »reinigt«, wird dieser Tag tatsächlich zu einer Stufe nach oben.

Mischna Jedoch sind wir nicht alle große Kabbalisten und können die mystische Bedeutung dieses Konzeptes verstehen. Wenn man dennoch an seinem Charakter arbeiten möchte und jeden der 49 Tage bedeutungsvoll machen will, haben unsere Weisen ein Hilfsmittel erschaffen: Es wurde der Traktat »Pirkej Awot« verfasst, der zum Bestandteil der Mischna wurde.

In Pirkej Awot sind ethische Lehren unserer Weisen zusammengefasst, die uns die Möglichkeit geben, unsere Charaktereigenschaften zu verbessern. Nicht zufällig entstand der Brauch, an jedem Schabbat in den sechs Wochen zwischen Pessach und Schawuot ein Kapitel aus diesem Traktat zu lernen.

Ein weiterer Brauch dient auch dazu, die eigene Spiritualität zu erweitern: In diesen 49 Tagen wird jeden Tag ein Blatt aus dem Talmudtraktat Sota beziehungsweise Schwuot gelernt, weil diese Traktate genau 49 Blätter enthalten.

Charakter
Eigentlich soll man nicht nur an diesen Tagen seinen eigenen Charakter verbessern und seine eigene Spiritualität steigern. Jedoch gerade vor dem Schawuotfest ist das mehr als nötig: Denn unsere Weisen betonen, dass das Toralernen allein den Menschen nicht besser macht. Es könnte sogar umgekehrt sein: Ein schlechter Mensch könnte durch Toralernen noch schlechter werden – und es gab in der Geschichte leider genug Beispiele dafür.

Die Tora ist folglich ein mächtiger Verstärker: Ein guter Mensch kann dadurch Perfektion und Heiligkeit erlangen, ein unwürdiger Schüler kann sich und die Nächsten mit seinen Torakenntnissen in den Abgrund reißen. Gerade deshalb soll man zum Schawuotfest gut und würdevoll vorbereitet sein, um die Tora zu empfangen. Und deshalb ist das Omerzählen auch heutzutage für uns enorm wichtig: Es ist eine tägliche Erinnerung daran, dass wir diese Zeit sinnvoll und verantwortungsvoll nutzen sollen.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Gemeinde zu Dessau und Mitglied der Orthodoxen Rabbinerkonferenz (ORD).

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