Berlin

»Ich bin ein Suchender«

Jazzmusiker Rolf Kühn Foto: Uwe Steinert

Obwohl er wenig Zeit hat zwischen Tonstudio, Jazz-Arrangements und Klarinette-Üben, macht Rolf Kühn an diesem Tag eine Ausnahme, um aus seinem Leben zu erzählen. »Dort kommt er«, ruft der Kellner des italienischen Restaurants in den Raum, als Rolf Kühn aus dem Auto steigt.

Der 88-Jährige ist ein Star – ein international bekannter Jazz-Musiker, ausgezeichnet mit vielen Preisen, darunter zwei Jazz-Echos. In diesen Tagen macht er sich selbst ein Geschenk, indem er wieder eine Platte aufnimmt. Nur über den Titel grübelt er noch. Vielleicht »Best of your Life«? Oder »From both sides now«?

»Die Klarinette ist meine Freundin und Feindin in Personalunion«, erzählt er, als er Platz genommen hat. Täglich übe er zwei bis drei Stunden. Er fange gerade erst an und werde immer besser, sagt er lächelnd. Mit dieser Aussage erinnert er an den Cellisten Pablo Casals, der die gleiche Altersweisheit verbreitete. Die Klarinette sei »eine unsympathische Dame«, sie sei die schlimmste von all seinen Frauenbekanntschaften, meint Kühn. Wenn er sie ein paar Tage vernachlässige, nehme sie es ihm übel. »Die Strafe kommt sofort, denn die Muskeln um den Mund lassen sofort nach.« Dennoch freue er sich jeden Tag darauf, wenn er das schwarze Holz aus dem Kasten nimmt, mit den Fingern über die Klappen streicht und loslegen kann.

Zum Üben fährt er meist zum Deutschlandradio am Innsbrucker Platz in ein stillgelegtes Studio, in dem er bereits in den 50er-Jahren mit der RIAS Big Band probte. Wenn das besetzt sein sollte, übt er in der Kaffeeküche. Da kommt er auch mit denjenigen ins Gespräch, die sich einen Kaffee kochen wollen. Rolf Kühn unterhält sich gerne, wirkt offen und interessiert, möchte alles wissen und besticht mit einer entwaffnenden Freundlichkeit. Selbstdarstellung ist nicht seine Tonlage.

zirkus Zur Welt kam Rolf Kühn im September 1929 in Köln. Eigentlich sollte er etwas ganz anderes werden, nämlich Akrobat. »Mein Vater war Artist und trainierte mich«, sagt er. Bereits als Kind hatte er hin und wieder Auftritte. Fotos aus dieser Zeit zeigen einen Jungen mit einem strammen Handstand auf den Armen seines Vaters.

Kurt Kühn ließ sich in der Nazi-Zeit nicht von seiner jüdischen Frau Grete Moses scheiden – obwohl alle seine sechs Schwestern mit NSDAP-Mitgliedern verheiratet waren und ihn gemeinsam mit den drei Brüdern bedrängten, sich von Grete zu trennen. »Er war so gekränkt und verletzt, dass er mit allen den Kontakt abbrach und nie wieder mit ihnen sprach«, erzählt der Sohn.

Diese Haltung musste Kurt Kühn mit jahrelanger Zwangsarbeit im Leipziger Lager Todt bezahlen. »Er war so ein gutherziger und gutmütiger Mann«, sagt Rolf Kühn. Seine Eltern hatten sich in Köln kennengelernt – Kurt, der als Zirkusartist in der Stadt war, verliebte sich in Grete, das Mädchen hinter der Kaufhauskasse. Sie heirateten und zogen nach Leipzig, wo die Jüdische Gemeinde 1930 rund 13.000 Mitglieder zählte. Oft ging er mit seiner Mutter in die Synagoge, erinnert sich Rolf Kühn. Oft begleitete die Familie den Vater auf Tournee. Das Stimmengewirr aus allen Sprachen, die Kostüme, Masken, das Publikum, die Musik faszinierten ihn.

Erst wollte er einen guten Schulabschluss machen, dann Artist werden. Doch sein Interesse änderte sich schlagartig eines Morgens: als er im Radio »Albert Vossen und seine Solisten«, eine Swinggruppe mit Akkordeon und Klarinettisten hörte. Die Musik ließ ihn nicht mehr los, und er wünschte sich eine Klarinette – die ihm sein Vater auch prompt schenkte. Nach langer Suche fand seine Mutter einen Lehrer – Hans Berninger, Klarinettist am Leipziger Gewandhaus, und einen Klavier- und Theorielehrer. Obwohl sie es nicht durften, unterrichten sie ihn. Er übte zehn Stunden am Tag. Akrobat wollte er nicht mehr werden.

angst Doch 1933 zerschlugen sich die Pläne. Sein Vater wurde aus der Reichstheaterkammer ausgeschlossen, während seine Mutter bis zur Pogromnacht einen Tabakladen führte. In der Nacht wurden die Fenster eingeschlagen und die Waren geplündert. »Alle wussten, dass die Nazis unser Geschäft kaputt geschlagen hatten, in der Schule fielen entsprechende Bemerkungen, es gab auch Schlägereien mit meinen Klassenkameraden.« Nur acht Jahre lang durfte Rolf zur Volksschule gehen, ein weiteres verboten die Nazis jüdischen Kindern.

Doch zu Hause wollte die Familie nicht immer von ihren eigenen Angstgefühlen sprechen. Immerhin konnte sie vorerst noch von Ersparnissen leben. Doch die älteste Schwester der Mutter kam 1941 mit der ersten Deportation nach Lodz, von dort nach Kulmhof, wo sie in einem Gaswagen umgebracht wurde. Eine weitere wurde in Auschwitz ermordet. Die jüngste wurde Pianistin und konnte mit ihrem Ehemann, einem Schlagzeuger, noch rechtzeitig in die Schweiz fliehen. 35 Jahre spielte das Paar als Duo jeden Abend in einem Hotel.

Und dann kam »der blaue Brief von der Gestapo« an seine Mutter, die gerade ihren zweiten Sohn, Joachim, zur Welt gebracht hatte. Dank Beziehungen konnte sein Vater im Gestapo-Hauptquartier vorsprechen, wo er einen Nervenzusammenbruch erlitt. Der Brief würde daraufhin noch einmal sechs Monate zurückgestellt werden, mehr ginge nicht, wurde ihm mitgeteilt.

»Es war schrecklich. Meine Eltern hatten große Angst und das prägt natürlich.« Glücklicherweise ging der Krieg vorher zu Ende. Im Frühjahr 1945 verzeichnete die Jüdische Gemeinde Leipzig gerade einmal 24 Mitglieder. Heute ist sie mit 1300 Mitgliedern die größte in Sachsen. Vor Jahren organisierte sie eine Stolpersteinverlegung für Rolf Kühns Tante, die auch in Leipzig gelebt hatte. Der Musiker war von der Feier sehr bewegt. »Es war ein denkwürdiger, wichtiger Tag, denn es ist die einzige sichtbare Erinnerung.« Dass er nicht so schnell aufgebe, sondern über ein ausgeprägtes Durchhaltevermögen verfüge, habe er auch durch die Nazizeit gelernt.

amerika »Nach dem Krieg hatten alle Hunger nach Musik«, sagt Kühn. Mit 16 spielte er Klavier in der Opernballettschule – wo er bereits improvisieren musste. Mit 17 wurde er Saxofonist und Klarinettist beim neu gegründeten Sender Leipzig, dem Mitteldeutschen Rundfunk. Im Rundfunk-Tanzorchester Leipzig lernte er 1947 erstmals Jazz kennen und lauschte Schallplatten von Benny Goodman (1909–1986). »Da war es um mich geschehen, ich war so beeindruckt von seinem Klarinettenspiel und seiner Musik.« Drei Jahre später wechselte er nach Berlin zum RIAS-Tanzorchester.

Doch er spürte, dass es dort keine musikalische Herausforderung mehr für ihn gab. Er hatte den Wunsch, sich selbst zu beweisen und mit den besten Musikern der Welt zu messen – und kaufte ein Ticket für die USA, für New York. Das war 1956. »Es war bodenloser Leichtsinn«, sagt er heute. Ohne über Verbindungen oder Engagements zu verfügen, brach er auf. Sechs Monate dauerte es allein, die Gewerkschaftskarte zu erhalten, ohne die in den USA kein Musiker arbeiten durfte. Nach drei Monaten war sein Erspartes aufgebraucht, und er verkaufte Schuhe, bis er nach vier Wochen wegen Unfähigkeit den Job wieder verlor.

Zum Üben ging er in den Park. Doch er hatte Glück und begegnete den richtigen Menschen – oft per Zufall. Den Pianisten Friedrich Gulda (1930–2000), den er aus Deutschland kannte, traf er auf der Straße wieder. Der machte ihn mit Caterina Valente bekannt, die ihn fragte, ob sie zusammen im Hotel Musik machen wollten. Da hatte er gerade die ersehnte Gewerkschaftskarte bekommen und konnte den Job annehmen.

Er traf den großen Musikproduzenten John Hammond und wurde von seinem Vorbild Goodman zu einem Vorspiel eingeladen, schaffte es sogar bis ins Orchester. Mit Benny Goodman, der aus einer russisch-jüdischen Familie kam, in ärmlichen Verhältnissen im jüdischen Viertel Chicagos aufwuchs und als Zehnjähriger in der Kehillah-Jacob-Synagoge Unterricht bekam, sprach er auch oft über seine jüdische Familie. »Er stellte gerne Juden ein«, sagt Kühn über Goodman. Goodman sei auch der Erste gewesen, der gemischte Bands zusammenstellte – mit schwarzen Musikern. »Als Bandchef war Goodman heikel – manchmal haben wir morgens im Tourbus gesessen und wussten nicht, auf welcher Bühne wir abends stehen würden.« Ebenso unsicher sei es bei den Konzerten zugegangen. Oft mit nur einem einzigen Blick habe Goodman seinen Musikern signalisiert, dass sie nun das Solo spielen sollten. »Man wusste nie vorher, wann man dran ist.«

spektrum 1962 spürte Kühn, dass er sich in Amerika finanziell kaum über Wasser halten konnte und kehrte zurück nach Deutschland. Dort leitete er fortan das NDR-Fernsehorchester in Hamburg und nahm zahlreiche Platten auf. Er nutzte die 60er-Jahre auch, um Dirigieren zu studieren, komponierte für Serien wie Tatort, Derrick und Dr. M schlägt zu.
Auch seine familiäre Situation änderte sich: Jahre später schaffte er es mithilfe seines Freundes Friedrich Gulda, seinen Bruder Joachim aus der DDR in die BRD zu holen. Auch seine Eltern konnten nun als Rentner die DDR verlassen und zogen nach Hamburg. »So lebten wir alle vier in meiner Hamburger Zweizimmerwohnung«, sagt Rolf Kühn.

Es war eine glückliche Zeit. Ein Jahr darauf starb sein Vater. »Ich glaube, dass Todt seine Spuren bei ihm hinterlassen hat.« Seine Mutter schloss sich der Jüdischen Gemeinde Hamburg an. »Zwischendurch hatte ich ein Haus für meinen Bruder und meine Mutter gemietet. Ich dachte, wir könnten uns so um unsere Mutter kümmern.« Doch sie zog wieder aus, denn sie wollte lieber allein leben. Im Alter von 96 Jahren starb sie und wurde auf dem Jüdischen Friedhof beerdigt.

Kühns musikalisches Spektrum reicht von Klassik über Jazz, Free Jazz, Jazzrock. Auch Benny Goodman hat Platten mit klassischen Konzerten aufgenommen. Beispielsweise gilt Goodmans Interpretation von dem Klarinettenkonzert von Mozart immer noch als musikalische Referenzaufnahme. 2008 gründete Kühn mit Christian Lillinger, Ronny Graupe und Johannes Fink das Ensemble »Rolf Kühn Unit«. Mit dieser Band tourt er noch immer. Auch macht er viel Musik mit seinem Bruder Joachim, einem Pianisten – »der ist viel berühmter als ich«, sagt Kühn.

glück Berühmt ist auch seine zweite Ehefrau, die Schauspielerin Judy Winter. Seit mehr als 25 Jahren ist er nun mit Melanie, seiner dritten Ehefrau, verheiratet und lebt mit ihr in Wilmersdorf. »Ich war und bin ein Lernender, Suchender und hatte dabei rückblickend großes Glück. Es war aber kein bequemer Weg«, lautet sein Fazit. Seine größter Wunsch: dass der innere Spirit und seine Neugier bleiben.

Infos unter www.rolf-kuehn.de

Die nächsten Konzerte finden am 16. März in der Philharmonie (Tribute to Benny Goodman mit der NDR Bigband) und am 18. Mai in der Kulturbrauerei (Rolf Kühn Unit) statt.

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