Grossbritannien

Der vermeintliche Tierfreund

Streit in Lancashire: Die Grafschaftsbehörde lehnt Koscher- und Halalfleisch ab. Foto: Illustration: Marco Limberg

Im Nordwesten Englands, zwischen Manchester und dem Lake District, streiten sich ansässige Muslime und Juden mit der Regionalbehörde der Grafschaft Lancashire. Auslöser ist der Verzehr geschächteter Fleischprodukte in den 27 staatlichen Schulen des Kreises. Die Vertreter der Behörde hatten im Herbst mit einer Mehrheit von 41 Stimmen und 15 Enthaltungen beschlossen, geschächtetes Fleisches in Schulkantinen zu verbieten.

Dass es zu der Abstimmung kam, liegt an der persönlichen Initiative des konservativen Landrats Geoff Driver. In seinen Augen ist das ri­tuelle Schlachten »grausam und abstoßend«.
Nach dem Beschluss sollen nun nur Fleischwaren in die staatlichen Schulen geliefert werden, bei denen die Tiere vor der Schlachtung betäubt wurden.

Muslime Von der Entscheidung sind vor allem muslimische Kinder und Jugendliche betroffen. Muslime stellen in der Grafschaft rund fünf Prozent der Gesamtbevölkerung, in manchen Kommunen sind es sogar bis zu 15 Prozent.

Weniger betroffen von der Entscheidung sind jüdische Kinder, denn mit gerade einmal 859 Gemeindemitgliedern liegt der Anteil jüdischer Einwohner an der Gesamtbevölkerung der Grafschaft nach der letzten Volkszählung bei lediglich 0,07 Prozent.

Laut Sara Tax, der Sprecherin der jüdischen Reformgemeinde im benachbarten Blackpool, gibt es in der Region nur wenige jüdische Kinder, und die meisten gingen ohnehin in Manchester zur Schule, wo viel mehr Juden leben.

Angriff Dennoch verstehen jüdische Vertreter den Koscher-Bann als direkten Angriff auf die Schechita, das Schächten. Sowohl der nationale jüdische Dachverband Board of Deputies als auch das Jewish Representative Council of Greater Manchester and Region (JRC) suchten Ende Dezember den Landrat auf, um ihre Bedenken mitzuteilen.

Doch dies führte zu noch mehr Aufruhr. Denn Driver behauptete, dass muslimische und jüdische Mitglieder des Grafschaftsrates, die sich zu diesem Thema äußerten, aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit »nicht als objektive Stimmen gesehen werden könnten«.

Diese Aussage wurde von den jüdischen Repräsentanten heftig kritisiert, unter anderem von JRC-Chef Jonny Wineberg. Der war bei dem Treffen mit Driver dabei und bezeichnet den Landrat als »bigotte Person«. Driver sei »ziemlich voreingenommen« gewesen »und fragte uns, ob wir unsere Meinung ändern würden, wenn wir Beweise für seine Position sehen würden. Dabei sprach er von Studien aus Neuseeland, wollte sich aber nicht mit den höchsten Standards befassen, die die nationale Kaschrutbehörde Shechita UK setzt.«

standards Während Muslime und Juden der Region in vielen Bereichen zusammenarbeiten würden, hätte man es in diesem Fall vorgezogen, sich »getrennt und doch gemeinsam« für dieselbe Sache einzusetzen, sagt Weinberg. Der Grund dafür sei die Tatsache, dass sich die Halal-Standards in Großbritannien von den Koscher-Standards unterscheiden. Es gäbe zwei große und mehrere kleine Halal-Behörden. Eine der Behörden hätte ein ähnliches Niveau wie Shechita UK, die anderen jedoch nicht.

Weinberg findet es sehr befremdlich, dass die Schüler an den staatlichen Schulen in Lancashire nicht wie in vielen anderen Grafschaften wählen dürfen, welche Art Fleisch sie in der Kantine essen möchten. Stattdessen wurde bisher allen Halal-Fleisch serviert. Mit etwas mehr bürokratischer Flexibilität wäre diese Debatte gar nicht erst aufgekommen, sagt Weinberg.

Untersuchung Abdul Hamid Qureshi, der Vorsitzende des Verbands der Moscheen in Lancashire, sagte der Jüdischen Allgemeinen, dass die Gemeinden inzwi­schen eine unabhängige rechtliche Untersuchung der Entscheidung beantragt hätten. »Denn rituell geschlachtetes Fleisch ist in Großbritannien und laut EU-Recht vollkommen legal.« Solange die Entscheidung geprüft wird, muss die Grafschaftsbehörde sicherstellen, dass weiterhin sowohl koscheres als auch Halal-Fleisch angeboten wird.

Dabei ist das Problem nicht neu. Qureshi erinnert sich, dass Geoff Driver bereits vor vier Jahren versuchte, in Lancashire geschächtetes Fleisch zu verbieten. Man setzte damals eine örtliche Untersuchungskommission ein.

Entgegen der Ansicht Drivers, der damals mit in der Kommission saß, sprach man sich gegen ein Verbot aus – ja, die Kommission empfahl sogar, die Regierung der Grafschaft möge sicherstellen, dass religiösen Minderheiten wie Muslimen der Zugang zu geschächtetem Fleisch garantiert werde.

»Als Driver letztes Jahr, nach vier Jahren in der Opposition, wieder mit seiner Partei die Regionalwahlen gewann, kehrte auch seine Mission gegen das Schächten ins Rathaus zurück«, sagt Qureshi und wundert sich über das Anliegen. »Der Schutz von Tieren ist doch nicht nur eine Frage ihrer letzten Momente, sondern betrifft alle Bereiche des Lebens von Tieren, also auch ihre Haltung. Im Namen der Tierliebe allein gegen das Schächten vorzugehen, ist seltsam.«

Richtlinien Mit seiner Aktion in Lancashire handelte der Landrat gegen die Richtlinien der Partei und der britischen Regierung, die sich stets für den Schutz des rituellen Schächtens ausgesprochen hat.

Erfreut über Drivers Aktion äußerte sich allerdings Paul Golding, der Führer der rechtsextremen islamfeindlichen Gruppe Britain First. Er lobte die Entscheidung von Lancashire per Twitter.
Auch das ultrarechte US-amerikanische Online-Magazin »Breitbart News« berichtet immer wieder über die Affäre und bebildert die Artikel mit Fotos, die das Schächten eines Schafs im Detail darstellen.

Ebenso mag die rechtspopulistische Ukip-Partei Geoff Drivers Aktion gegen das Schächten gutheißen. Vor den Wahlen 2017 bezeichnete eine nordenglische Ukip-Kandidatin das rituelle Schlachten als »krankhaft, böse und satanisch«.

Sowohl Vertreter jüdischer als auch muslimischer Organisationen wollen weiter gegen den Beschluss vorgehen. Eine Entscheidung der gerichtlichen Untersuchung wird innerhalb der nächsten drei Monate erwartet.

In einem Interview mit der BBC gab Geoff Driver kürzlich zu verstehen, dass es bei der Untersuchung nicht um das Halal-Verbot an sich gehe, sondern lediglich geklärt werden solle, ob er bei der Entscheidung den demokratisch richtigen Weg gegangen sei.

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