Köln

Das Haus in der Ehrenstraße

Die Nummer 86 der Ehrenstraße liegt in einem Häuserblock in der Kölner Innenstadt. Er gehört zu den wenigen Straßenzügen der Rheinmetropole, die nach dem Zweiten Weltkrieg nahezu unbeschadet erhalten geblieben sind. Im Erdgeschoss lädt ein modernes Möbelgeschäft zum Shoppen ein. Eine überwiegend junge Kundschaft erkundet Kommoden aus Mangoholz, handgeschmiedete Silbertabletts und Auflaufformen aus italienischer Keramik. Auf die früheren Besitzer dieser Geschäftsräume gibt es keinen Hinweis.

Doch vor 1938 wurden hier weder Sofas noch Teppiche verkauft, sondern Fleisch- und Wurstwaren. Denn der Laden war die Hauptgeschäftsstelle der Metzgerei-Kette Katz-Rosenthal. Gegründet wurde sie nach dem Ersten Weltkrieg von den Metzgermeistern Abraham »Abba« Katz und Samuel »Sally« Rosenthal.

Kühltheke Im vorderen Teil der Räume standen lange Kühl- und Bedienungstheken sowie Stehtische; die dahinter liegenden Räume waren durch ganzflächige Glastrennwände einsehbar. Die gesamte Einrichtung war im Bauhausstil gestaltet, klare Linien, schnörkellos. Das Schaufenster und der Eingangsbereich sahen da-mals anders aus als heute. Die räumliche Größe muss beeindruckend gewesen sein. So teilte eine offen stehende Doppelflügeltür die Mitte des langen Raumes. Dahinter ahnt man den Hof und die angrenzende Friesenwall-Straße.

Dass die Geschichte der Metzgerei-Kette und der Unternehmerfamilie Katz-Rosenthal überhaupt ans Licht kam, ist der Initiative von Michael Vieten zu verdanken. Der Sozialpädagoge zog 2002 in das Haus Nummer 86. 2004 weckte die beiläufige Bemerkung einer Nachbarin zur früheren Metzgerei und ihren jüdischen Besitzern, die im ersten und zweiten Stock gewohnt haben sollen, seine Neugier. »Bäi üsch in dä Wunnung hätt sisch äine vun dä Familisch kapott jeschosse« – »Bei uns in der Wohnung hat sich einer aus der Familie umgebracht«, erzählte ihm die alteingesessene Kölnerin.

puzzle Seitdem lässt Vieten dieser Satz nicht mehr los. Er beginnt zu recherchieren, durchkämmt Archive, befragt Nachbarn, Nachfahren und Zeitzeugen. Manchmal kommt ihm der Zufall zu Hilfe. Schließlich gräbt er eine Geschichte aus, über die längst Gras gewachsen war: die Geschichte der Familie Katz-Rosenthal. In dem Buch Ich halte Euch fest und Ihr lasst mich nicht los! (Hentrich & Hentrich 2017) hat er sie aufgeschrieben.

Michael Vieten sieht sich im heutigen Möbelgeschäft um. Er holt historische Fotos aus der Tasche. Im hinteren Bereich des Ladens betritt er die Terrasse. Er zeigt auf die Rückansicht des Hauses, die die Größe der Wohnungen erkennen lässt. »Dort im zweiten Stock«, sagt er und zeigt auf das erste Fenster des Seitenflügels, »war das Badezimmer, in dem sich Abba Katz
mit einem Bolzenschussgerät das Leben nahm.« Gefunden hatte ihn seine damals 19-jährige Tochter Ellen.

Zunächst vermutete Vieten, Abba Katz habe sich 1933 wegen der Verfolgung durch die Nazis erschossen, doch wie sich später herausstellte, gab es einen anderen Grund: Liebeskummer.

Abbas Tochter Ellen, die in die USA auswanderte und in Florida lebt, erzählte dem Autor später mehr über die Familiengeschichte. Acht Stunden Tonmaterial hat Vieten während eines Besuchs bei ihr aufgenommen. Ellen Katz habe die Gespräche auf Englisch begonnen, sagt er, sei dann aber nach und nach zum Deutschen übergegangen – »bis sie am Ende der Woche sogar in Kölscher Mundart redete«.

Rheinland Allein die Familiengeschichte um den Metzgermeister Abba Katz und dessen Frau Hedwig sowie deren 1913 und 1914 geborenen Kinder Fritz und Ellen böte Stoff für ein separates Buch, meint der Autor. Doch er wollte in seiner Recherche auch den anderen Familienmitgliedern Raum geben. So hat sich sein ursprüngliches Projekt schließlich zu einer komplexen Betrachtung jüdischen Lebens im damaligen Rheinland entwickelt – je mehr Puzzlestücke er zusammentrug, umso mehr fügten sie sich allmählich zur Geschichte einer erfolgreichen jüdischen Großfamilie zusammen.

So galt Katz-Rosenthal am Ende der 20er-Jahre als größte Metzgereikette im Kölner Raum – und vermutlich sogar darüber hinaus. Unterstützung erhielten die beiden Gründer Abba und Sally von Abbas Bruder Daniel, ohne den die enorme Expansion der Kette innerhalb weniger Jahre nicht möglich gewesen wäre. Anfang 1928 hatten sich sieben Filialen etabliert, in denen insgesamt 200 Mitarbeiter Beschäftigung fanden. Drei Millionen Reichsmark Jahresumsatz erzielte das Unternehmen. Es gehörte somit zu den bedeutendsten seiner Art in ganz Köln.

Wurst Gute Qualität, besondere Wurstrezepte und Innovationen trugen zum Erfolg bei, sodass die Unternehmer auf ihrem wirtschaftlichen Höhepunkt im Februar 1928 ein Schnellimbiss-Restaurant in der Schildergasse 99/101 eröffnen konnten. Auf zwei Etagen, eingerichtet nach amerikanischem Vorbild, hatten die Gäste in neuer Art und Weise der »Selbstbedienung« die Möglichkeit, nach Belieben zu schlemmen. Das war seinerzeit einzigartig in Köln.

Doch die Neueröffnung rief offenbar auch Neider auf den Plan: Schon am 14. April 1928 kam es zum Skandal mit der vermeintlichen »Maus im Gulasch«. Michael Vieten räumt diesem Vorfall großen Platz ein, belegt, dass dieser Skandal, inszeniert durch den »Westdeutschen Beobachter« und dessen Herausgeber Robert Ley, dem geschäftlichen Ansehen der Kette über Monate enorm schadete. Robert Ley – später Reichsleiter der NSDAP – zog alle Register, um das Gerücht anzuheizen. Selbst Unterlassungsklagen des Gerichts interessierten ihn nicht. Dieser Vorfall verdeutlicht aus Vietens Sicht, wie Juden bereits lange vor 1933 Repressalien und Verunglimpfungen ausgesetzt waren.

ausgrenzung Das Besondere an dem Mammutprojekt ist, dass der Autor neben der Geschichte der Metzgerei auch die Lebenslinien sämtlicher Katz-Geschwister erforscht hat – deren Eltern in Köln bereits um 1896 eine Metzgerei besaßen. Denn auch Carl, Ludwig, Daniel, Benjamin und Henriette Katz hatten sich mit ihren jeweiligen Ehepartnern dem Handel oder der Verarbeitung von Fleisch- und Wurstwaren verschrieben und betrieben eigene Geschäfte in Köln – wobei niemand von ihnen koschere Waren im Sortiment hatte.

Durch die umfassende Darstellung des alltäglichen Lebens inmitten der Kölner Gesellschaft entsteht ein Einblick in das Leben einer jüdischen Familie, die im Laufe der Jahre Ausgrenzung, Plünderung, Verfolgung, Emigration und Vernichtung ausgesetzt war – ein Beispiel, das sich aus Vietens Sicht gerade wegen seiner Vielschichtigkeit für Erinnerungsarbeit anbietet. Künftig möchte der Sozialpädagoge diese konkrete Geschichte mit audiovisuellen Präsentationen und interaktiven Lernmethoden Interessierten und vor allem Schülern vermitteln und Seminare für Lehrer anbieten – zur Prävention gegen Diskriminierung und Antisemitismus anhand einer einzelnen Familiengeschichte.

Die Veränderungen und Ereignisse ab 1933 stellt Michael Vieten Jahr für Jahr und für jede einzelne Familie somit zeitlich parallel dar. Überlebt haben zumeist nur die Kinder der Geschwister Katz, die teilweise in England, den USA und Südafrika das Traditionshandwerk der Vorfahren erfolgreich weiterführten. Zu den wichtigsten Zeitzeugen für das Projekt wurde neben Ellen Katz auch der 1918 in Köln geborene Rudolf »Rudi« Katz, ein Sohn von Carl Katz, der im August 1939 nach England fliehen konnte. Nicht selten musste Vertrauen dabei behutsam aufgebaut werden, mitunter kam dem Autor der Zufall zu Hilfe.

So platzierte etwa Rudi Katz den Autor während einer Autofahrt auf dem Rücksitz neben seinen Rauhaardackel Deazel – die beiden verstanden sich gut, und da Rudi auf den »guten Riecher« seines Dackels vertraute, öffnete er sich auch den Fragen des Autors.

bestellung »Der Selbstmord, die Kulisse des Hauses, die damalige Bekanntheit der Familie, deren Erfolg und deren späterer Verbleib waren Ansporn, diesen Schatz zu heben«, erklärt Vieten seine Motivation, die Geschichte der Familie auf eigene Faust zu recherchieren und die vielen Reisen aus eigener Tasche zu bezahlen.

Am Ende war der »positive Druck«, wie es der Autor nennt, von Ellen Katz (heute 103) und Ellenore Katz, der Tochter von Ellens Bruder Fritz, motivierend, die ihn unaufhörlich drängten, dieses Buch fertigzustellen. Rudi erlebte die Veröffentlichung nicht mehr.

»Gut möglich, dass die Kölner noch heute bei Katz-Rosenthal einen Imbiss zu sich nehmen würden, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre«, meint Michael Vieten, während er nachdenklich aus dem Schaufenster des Möbelgeschäfts schaut. Denn als er 2010 in der lokalen Presse per Anzeige einen Zeitzeugenaufruf startete, meldete sich eine ältere Dame. Ob sie mit der Metzgerei Katz-Rosenthal verbunden sei, fragte sie. Sie wolle eine Bestellung aufgeben.

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