Porträt der Woche

Geschichten von anderen

Tamar Gablinger zeigt Touristen die Stadt und entdeckt dabei selbst gern Neues

von Alice Lanzke  11.07.2017 10:22 Uhr

»In meinem Leben ist vieles durch Zufall passiert«: Tamar Gablinger lebt in Berlin. Foto: Stephan Pramme

Tamar Gablinger zeigt Touristen die Stadt und entdeckt dabei selbst gern Neues

von Alice Lanzke  11.07.2017 10:22 Uhr

Vieles in meinem Leben ist durch Zufall passiert, so auch mein Umzug nach Berlin. Mein Partner wollte 2001 für seine Promotion hierherziehen, ich kannte die Stadt nur aus den Songs von Element of Crime oder Nick Cave and the Bad Seeds – hatte also eigentlich keine Ahnung. Für uns beide war es ein ungeplanter Umzug, doch Berlin passte – und passt – sehr gut zu uns.

Wir kommen beide ursprünglich aus deutsch-jüdischen Familien. Ein Onkel meines Vaters ging nach dem Krieg zurück nach West-Berlin und nahm meinen Vater einmal mit zum Eislaufen. Das wollte er unbedingt – nach seiner Zwangsauswanderung nach Palästina war es frustrierend für ihn, dass er das nicht mehr konnte. Wir haben immer gescherzt, dass er wegen des Eislaufens und der Waldbeeren zurück nach Deutschland ging. Aber eigentlich sind diese beiden Dinge Symbole für einen Teil seines Lebens, das er hier hatte und verlor.

touren Ich selbst bin in Jerusalem aufgewachsen. Schon früh hatte ich großes Interesse an Geschichte und Geschichten. Was können Häuser, Orte oder Personen erzählen? Umso passender ist es da natürlich, dass ich nun Stadtführungen anbiete. In Berlin gibt es an jedem Ort faszinierende jüdische Geschichten, die ich teilweise selbst erst durch meine Touren entdecke.

Ein großer Teil unserer Tourteilnehmer kommt aus Israel, aber auch aus den USA und Europa. Wir haben Schulklassen ebenso wie Menschen, die mehr über ihre Familiengeschichte erfahren wollen. Für manche Besucher sind diese privaten Touren sehr emotional. Ich hatte zum Beispiel einmal eine Frau in der Gruppe, die erzählte, dass ihre Eltern früher Wissenschaftler in Berlin waren und eine Villa im Grunewald besaßen. Mit einem neuen Mann ging die Mutter nach Palästina und musste dort als Putzfrau arbeiten – ein sozialer Abstieg, der sie zeitlebens schmerzte. Viele kommen aber auch mit schönen Erinnerungen und freuen sich, wenn sie Spuren ihrer Kindheit wiederfinden – wie etwa den Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain, den es noch heute gibt.

Mittlerweile bietet mein Unternehmen so gut wie jeden Tag Führungen an, neben denen mit jüdischem Fokus auch alternative Touren mit Berliner Straßenkunst, kulinarische Touren oder Ausflüge nach Potsdam und Dresden. Dennoch kommt auch dabei immer wieder etwas Jüdisches vor, wenn es zum Beispiel um Migrationsbewegungen geht.

chuzpe Zu diesem Beruf bin ich eigentlich wieder per Zufall gekommen. 2002 suchte ein australischer Freund von uns jemanden, der eine englischsprachige jüdische Tour in Berlin machen konnte. Und wir suchten Arbeit. Mit viel Chuzpe haben wir also relativ früh in diesem Bereich angefangen. Aber das ist Berlin: Hier fallen viele durch Zufall in ihre Berufe.

Vor allem von Israelis werde ich oft gefragt, wie das Leben hier sei: wie die Deutschen mit uns als Juden oder mit Ausländern generell umgehen. Aber auch, wie es um die Erinnerungskultur in Deutschland steht. Da gibt es doch viele Ängste und Vorurteile. Und in Israel, aber auch in den USA, wird Deutschland in den Medien als Land dargestellt, in dem eine Mischung aus Fremdenhass und zu viel Fremdenakzeptanz herrscht. Natürlich hat Berlin wie jeder Ort auf der Welt gute und schlechte Seiten.

Ich finde es zum Beispiel hier nicht gerade einfach, wenn man als traditionelle Jüdin leben will. Nicht wegen des Antisemitismus, sondern wegen der kulturellen Akzeptanz und des Angebots, etwa an koscheren Supermärkten. Und das sage ich, obwohl ich nicht religiös bin. Ein weiterer Punkt: Mein Sohn geht in eine jüdische Schule und versteht automatisch, warum vor den Toren Polizisten stehen – obwohl wir nie darüber gesprochen haben.

Nun habe ich einige negative Dinge aufgezählt, aber natürlich gibt es auch viel Positives, sonst würden wir hier nicht leben. Ich finde Deutschland sehr interessant, und damit meine ich nicht nur Berlin, sondern auch ländliche Regionen, etwa in Sachsen. Aber Berlin hat natürlich eine einzigartige kulturelle Vielfalt und Offenheit. Gerade in dieser Stadt gibt es viele Ebenen und Schichten, die in kleineren Orten gar nicht existieren könnten. Das fasziniert mich, ohne dass ich den Rest von Deutschland schlechtmachen will. Auch dort sind die Menschen beileibe nicht so homogen, wie man denkt.

forschung In Jerusalem habe ich zunächst Politikwissenschaft und Afrikanistik studiert – die Fachgebiete der israelischen Journalistin Tamar Golan, von der ich damals stark beeinflusst war. Ich wechselte dann aber zu Sozialwissenschaften und promovierte schließlich an der Humboldt-Universität in Berlin, wo ich auch unterrichtete. Eine akademische Laufbahn wollte ich aber nicht einschlagen. Ich habe zwei Kinder, und das hätte mein Familienleben zu stark beeinflusst.

Gerade als Sozialwissenschaftlerin muss man dorthin ziehen, wo man eine Stelle findet. Ich hatte etwa ein Post-Doc-Angebot aus einer Kleinstadt in Texas, aber ich mag mein Leben hier zu sehr, als dass ich es hätte aufgeben wollen. Ein von mir sehr geschätzter Wissenschaftler lernt zum Beispiel gerade Norwegisch, weil er in Norwegen eine Stelle bekommen hat. Dieser Aufwand war es mir nicht wert.

Doch meine Forschungsarbeit beschäftigt mich noch immer. Ich habe 2009 in Religionssoziologie zum Thema »Neue Religionen« promoviert und wollte verstehen, wie Gesellschaften auf Religion reagieren. Das hat auch etwas mit dem Judentum zu tun, was natürlich keine neue Religion ist, aber als Minderheit stets mit Gegenreaktionen zu kämpfen hatte – und hat, wenn ich an die Beschneidungsdebatte denke oder an die Diskussionen um koschere Schlachtungen. Die Frage bei solchen Debatten ist immer, ob und wie sich der Staat einmischen soll. Es ist eine Frage für Demokratien weltweit, auf die ich keine Antwort habe.

faszination Ein anderes Forschungsinteresse von mir sind Verschwörungstheorien, die wie Religionen ein geschlossenes Glaubenssystem bieten. Insofern hängt auch dieser Bereich mit meiner Faszination für Glauben und Religionen zusammen. Doch Verschwörungstheorien müssen keine Theorien bleiben, sondern können Handeln auslösen.

Durch unsere neuen Medien haben wir einen ganz anderen Zugang zu verschiedensten Informationen. Unsere Wahrnehmungskultur hält damit aber nicht Schritt. Beispiel Impfungen: 99 Prozent der Menschen haben keine Ahnung von Impfungen, eine kleine Minderheit glaubt an eine Verschwörung, wonach Impfungen schwere Krankheiten auslösen, eine weitere Minderheit weiß es nicht genau, lässt das Impfen daher sein und gefährdet so andere. Themen wie diese sind sehr komplex, und Verschwörungstheorien bieten da oft einfache Erklärungen, wie etwa die Behauptung des ehemaligen Arztes Andrew Wakefield, der verbreitete, dass Impfungen Autismus auslösen.

Auch Journalisten, die eben keine Ärzte sind, berichteten über diese Theorien. Früher war das anders. Da gab es keinen Zugang zu solchen Informationen, über die Mainstream-Medien konnte man einfacher bewerten, was richtig und was falsch ist. Heute lernt man in der Schule oder Uni nicht mehr, Dinge kritisch zu bewerten. Ich finde es umso wichtiger, schon Kindern beizubringen, dass nicht alles, was man liest, stimmt.

blog Um Kinder geht es auch in meinem Blog oder genauer: darum, was man als jüdische Eltern in Berlin machen kann. Auf Facebook habe ich nämlich gemerkt, dass viele Eltern nicht wissen, was sie etwa an jüdischen Feiertagen unternehmen können. Auf meinem Blog geht es aber nicht nur um jüdische Ereignisse, sondern auch generell um Aktivitäten am Wochenende. Hier hat sich das kulturelle Angebot in Berlin wirklich verbessert. Es gibt viele Leute, die Ideen haben und hier den Raum finden, diese auch umzusetzen.

Berlin ist mittlerweile sicher eine Art Heimat für mich geworden, wenn man Heimat als den Ort definiert, nach dem man nach einer Weile Sehnsucht bekommt. Doch in meinem Leben ist so vieles durch Zufall passiert, dass ich nicht ausschließen würde, noch einmal woanders hinzuziehen – und andere Geschichten zu entdecken.

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024

Berlin

»Zeichen der Solidarität«

Jüdische Gemeinde zu Berlin ist Gastgeber für eine Gruppe israelischer Kinder

 15.04.2024

Mannheim

Polizei sucht Zeugen für Hakenkreuz an Jüdischer Friedhofsmauer

Politiker verurteilten die Schmiererei und sagten der Jüdischen Gemeinde ihre Solidarität zu

 15.04.2024

Wien

Käthe Sasso gestorben

Sie war eine der letzten Überlebenden aus der Zeit des österreichischen Widerstands gegen die Nazis

 15.04.2024

Oldenburg

Polizei richtet nach Anschlag auf Synagoge Hinweisportal ein

Es ist bislang nicht bekannt, wer die Synagoge attackiert hat

 12.04.2024

Tanz

Trauer um Tirza Hodes

Die Lehrerin ist im Alter von 101 Jahren gestorben – ihr Wissen um israelische Volkstänze gab sie an Generationen weiter

 11.04.2024

Kostprobe

Fruchtig, süß und knackig

Bald beginnt Pessach. Mit auf dem Sederteller: Charosset. Welches ist das beste?

von Katrin Richter  11.04.2024

Pessach

Shoppen für den Seder

Bei »Lampari« in Berlin herrscht vor den Feiertagen Hochbetrieb. Ein Besuch

von Christine Schmitt  11.04.2024