Porträt der Woche

Arzt mit Leib und Seele

Peter Zamory ist Suchtmediziner und versteht seine Arbeit als Mizwa

von Gerhard Haase-Hindenberg  06.06.2017 13:05 Uhr

»Bei der Beschneidungsdebatte 2013 habe ich mich zu Wort gemeldet«: Peter Zamory (63) lebt in Hamburg und engagiert sich politisch. Foto: Gesche-M. Cordes

Peter Zamory ist Suchtmediziner und versteht seine Arbeit als Mizwa

von Gerhard Haase-Hindenberg  06.06.2017 13:05 Uhr

Ich habe zwei jüdische Großväter. Halachisch war ich ursprünglich also nicht jüdisch, und erst im Erwachsenenalter bin ich vom Beit Din der Allgemeinen Rabbinerkonferenz »koscher« gemacht worden. Allerdings spielten in meiner Familie die jüdische Kultur und Tradition immer eine große Rolle, und seit meiner frühen Jugend auch die Politik. Beides hat mich stark beeinflusst, aber eben auch die Familiengeschichte.

Mein Vater und seine beiden Brüder haben die Nazizeit überlebt, als sie im Alter von 16, 14 und zwölf Jahren im Frühjahr 1939 mit dem Kindertransport nach England gebracht wurden. Dort fand mein Vater eine Gastfamilie in Manchester, seine beiden jüngeren Brüder mussten weiter nach Schottland, um familiären Anschluss zu finden. Deshalb habe ich heute schottische Cousins und Cousinen.

familie Mein Vater wurde bei Ausbruch des Krieges als »feindlicher Ausländer« auf der Isle of Man interniert, wo er kommunistische Emigranten kennenlernte, die sein Denken beeinflussten. Einer von ihnen nannte sich damals Felix Albin, aber in Wirklichkeit hieß er Kurt Hager und saß später in der DDR im mächtigen SED-Politbüro. Er war offenbar so überzeugend, dass mein Vater damals in diesem Internierungslager Kommunist wurde. Auf Anregung jenes Felix Albin trat er als Freiwilliger in die britische Armee ein und kämpfte in Norwegen gegen die Deutschen. Nach dem Krieg arbeitete er in einem Kriegsgefangenenlager als Dolmetscher.

Natürlich hätte mein Vater in England bleiben und die britische Staatsbürgerschaft annehmen können. Nun war er aber auf der Isle of Man Kommunist geworden, und da hört man auf seine Partei. Sie hat ihn vor die Wahl gestellt, entweder nach Hamburg oder nach München überzusiedeln. Er entschied sich für Hamburg, wo er in einer kommunistischen Studentengruppe meine Mutter kennenlernte. Sie hatte ihrerseits einen jüdischen Vater, der 1918 in Budapest an der ungarischen Revolution teilgenommen hatte. Er war nach Wien geflohen und von dort gemeinsam mit meiner nichtjüdischen Großmutter nach Paris, wo meine Mutter und deren Schwester zur Welt kamen.

In völliger Fehleinschätzung der politischen Lage in Deutschland siedelte die Familie 1934 nach Hamburg über, woher meine Großmutter ursprünglich kam. Nach ihrem baldigen Tod sollten meine Mutter und ihre Schwester als sogenannte Halbjüdinnen in ein jüdisches Kinderheim in der Rothenbaumchaussee verbracht werden. Da ging deren nichtjüdischer Großvater – ein pensionierter Finanzbeamter – zur Gestapo und verlangte sehr energisch, dass seine beiden Enkelinnen bei ihm zu wohnen hätten. Das wurde schließlich gestattet. So hat er den beiden Mädchen das Leben gerettet.

Rettung Mein Großvater väterlicherseits gehörte zu den 30.000 Juden, die nach der Pogromnacht inhaftiert wurden, um sie zu erpressen, ihren Besitz in Deutschland zu lassen und sich in einer Erklärung zu verpflichten, das Land zu verlassen. Als er sich weigerte, wurde er vier Wochen im KZ Buchenwald interniert. Wie viele bürgerliche Juden hatte er die Nazis unterschätzt. Nach diesem KZ-Aufenthalt war er wach geworden, organisierte den Transport seiner Söhne nach England und verließ Deutschland in Richtung Holland. Dort wurde er während des Krieges von einem protestantischen Pfarrer versteckt und hat so überlebt.

Der andere Großvater hatte das unglaubliche Glück, dass er zunächst von einem SS-Arzt als zu krank eingestuft wurde, um deportiert zu werden. Da schützte ihn noch sein ungarischer Pass. Später überlebte er illegal in Hamburg, wo er am 9. November 1949 – auf den Tag genau elf Jahre nach der Pogromnacht – einem Nierenleiden erlag. Ich bin also in Hamburg in der politischen Atmosphäre eines jüdisch-kommunistischen Elternhauses aufgewachsen.

Mein Vater blieb trotz des KPD-Verbots Kommunist – bis zur Niederschlagung des Prager Frühlings im August 1968. Meine Mutter war schon 1956 nach der Chruschtschow-Rede, in welcher der neue Sowjetführer den Stalinismus kritisierte, aus der KP ausgetreten.

schallplatten Bei uns zu Hause spielten jüdische Kultur, jüdische Literatur, jüdische Musik durchaus eine Rolle, die Hohen Feiertage hingegen weniger. Mein Vater hatte Anfang der 60er-Jahre die erste linke Buchhandlung in Hamburg gegründet. Da wurden auch jiddische Schallplatten angeboten. Eine hieß Es brennt! Brieder, es brennt! Daran erinnere ich mich noch.

In dieser Zeit wurde ich ebenfalls politisiert. Ich bin mit meinen Eltern immer zu den Ostermärschen gegangen und wurde auch selbst in der antiautoritären Schülerbewegung aktiv. Später habe ich mich in der überschaubaren trotzkistischen Bewegung in der Bundesrepublik betätigt. Immerhin hat Trotzki nicht nur die Rote Armee aufgebaut, sondern er war damit auch der erste jüdische Heerführer nach 3000 Jahren.

In den 80er-Jahren ging ich dann zu den Grünen und wurde für neun Jahre Abgeordneter in der Hamburger Bürgerschaft. Formell bin ich noch immer Mitglied, wenngleich ich inzwischen durchaus eine kritische Distanz zu meiner Partei habe und das gelegentlich auch kundtue.

akzeptanz Je älter ich werde, desto wichtiger wurden mir meine jüdischen Wurzeln. Hinzu kommt, dass ich meine Frau Yohana Hirschfeld kennengelernt habe, die väterlicherseits ebenfalls jüdische Wurzeln hat. Durch sie bin ich in die Synagoge gekommen. Dort habe ich eine Erfahrung gemacht, die mich selbst total überraschte: Die jüdischen Gebete und die Liturgie des Gottesdienstes haben mich sehr berührt, ja, sie sind mir tief in die Seele gedrungen. Auch das Zusammensein mit anderen Juden fing an, mir etwas zu bedeuten. Nach und nach habe ich mich von einem Atheisten zu einem jüdischen Agnostiker entwickelt.

Bald wurde mir klar, dass ich richtig dazugehören möchte. Yohana und ich haben uns an Rabbiner Eduard van Voolen gewandt, der damals in Hamburg für die liberalen Juden zuständig war. Nach dem Giur bei ihm wurden wir dann in Berlin vom Beit Din der Allgemeinen Rabbinerkonferenz offiziell ins Judentum aufgenommen.

Das hinderte die Jüdische Gemeinde in Hamburg allerdings nicht daran, sich sechseinhalb Jahre Zeit zu lassen, ehe man uns als Mitglieder akzeptierte. Dann hat man endlich die Satzung geändert, und nun wurden auch liberale und Reformjuden anerkannt, die über eine vom Zentralrat akzeptierte Rabbinerkonferenz zum Judentum gekommen sind. Unabhängig davon aber hatten meine Frau und ich schon vor Jahren einen egalitären Minjan nach Frankfurter Vorbild gegründet, der von der Gemeinde auch finanziell unterstützt wurde.

Inzwischen gibt es in Hamburg einen Reformgottesdienst, der einmal im Monat stattfindet. Es ist also einiges in Bewegung hin zu einer wahrhaft echten Einheitsgemeinde. Um darüber hinaus jüdisches Leben genießen zu können, fahren meine Frau und ich häufig nach Berlin. Mittlerweile sind wir in der Raoul-Wallenberg-Loge von B’nai B’rith, die wir als unser jüdisches Zuhause betrachten. Die Loge hat sich verschiedene Ziele gesetzt, so auch den Kampf gegen Antisemitismus. Auch wenn es um soziales Miteinander geht, etwa durch wundervolle gemeinsame Reisen auf jüdischen Spuren in einem europäischen Land, ist mir dieser politische Aspekt wichtig.

politik Ich achte sehr darauf, antisemitischen Tendenzen in meiner eigenen Partei, den Grünen, entgegenzutreten. So gab es etwa bei der Bundesdelegiertenkonferenz 2013 eine böse Debatte zur Beschneidung, bei der ich mich zu Wort meldete. Allerdings darf der Kampf gegen Antisemitismus keine rein jüdische Aufgabe sein.

Mein Beruf ist ein klassischer Mizwa-Beruf. Ich bin Arzt für Allgemeinmedizin, Facharzt für Altersheilkunde und außerdem für Suchtmedizin, deren Arbeitskreis ich in Hamburg leite. Interessanterweise habe ich mittlerweile in Berlin einige jüdische Ärzte kennengelernt, die sich auch mit Suchtmedizin beschäftigen.
Suchtgefährdeten oder auch drogenabhängigen Menschen Hilfe zuteil werden zu lassen, scheint offenbar ein jüdisches Anliegen zu sein. Auch in den neun Jahren meiner Tätigkeit als Hamburger Bürgerschaftsabgeordneter habe ich mich der Drogen- und Suchtpolitik angenommen.

Ich bin Arzt mit Leib und Seele. Und ich habe – trotz meines Alters von 63 Jahren – nicht vor, diese Tätigkeit in nächster Zeit aufzugeben.

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