Internet

Tora mit Touch

Mit den elektronischen Publikationen kommt das Judentum als Religion der Schrift und damit des Kommentars zu sich selbst. Foto: Thinkstock / Montage: Marco Limberg

Es ist alles andere als ein Zufall, dass Gott seine Weisung den Kindern Israels schriftlich mitteilte. Anders als Gottes Mitteilungen an Noah und seine Aufforderung an Abraham wurde das Grundgesetz der Kinder Israels am Sinai mit Flammenschrift auf Steintafeln geschrieben. Im fünften Buch Mose, 4,13 teilt Mose den Kindern Israels mit: »Und Er verkündete euch Seinen Bund, den Er euch zu halten gebot, zehn Worte, und Er schrieb sie auf zwei steinerne Tafeln.«

Wir lesen also von einer mündlichen Mitteilung, die ihrerseits auf einen Akt des Schreibens Bezug nimmt. Als aus dem Glauben der Kinder Israels schließlich – frühestens nach der Zerstörung des Ersten Tempels – die jüdische Religion wurde, wies sie neben der Bibel auch noch eine zweite Schrift, die Mischna, auf. Von der wurde wiederum schriftlich überliefert, dass sie über Jahrhunderte eine mündlich überlieferte Lehre gewesen sei.

altphilologie Das mag so gewesen sein oder auch nicht – immerhin will die Altphilologie wissen, dass auch die Epen von Ilias und Odyssee anfangs über Jahrhunderte nur von singenden Rhapsoden mit einem heute kaum noch nachvollziehbaren Gedächtnisvermögen überliefert wurden. Und dennoch bleibt die Schrift bestimmend.

Auf jeden Fall: Mit der Einführung der Schrift nahm das seinen Anfang, was Zivilisationshistoriker als »Hochkultur« bezeichnen – Phasen menschlicher Entwicklung, in denen vor 5000 Jahren erstmals Staaten entstanden.

Mit der Schrift aber – so der französische, algerische und jüdische Philosoph Jacques Derrida – veränderte sich das Wesen der menschlichen Kultur grundlegend. Erinnerung wurde jetzt auf Dauer gestellt, wurde späteren Generationen auch dann verfügbar, als die Urheber von Äußerungen nicht mehr unter ihnen weilten, wurde damit im Grundsatz allgemein zugänglich und vor allem kommentierbar – und das heißt auch bestreitbar.

buch Wie keine andere Religion jenseits des Fernen Ostens wurde das Judentum somit zu einer Religion des Buches, wurden ihm über Jahrhunderte seine heiligen Schriften zur Heimat, zu einem – wie der deutsch-jüdische Dichter Heinrich Heine vermerkte – »portativen Vaterland«. Heute, so scheint es, hat diese Entwicklung mit der Digitalisierung, mit dem Internet eine neue Qualität erreicht. Wir haben einen qualitativen Sprung zu registrieren.

Tatsächlich ist die Geschichte der Menschheit seit Anbeginn durch immer komplexere Kommunikationsweisen geprägt: von Ruf und Schrei der Neandertaler zur artikulierbaren Sprache und zum gemalten und gezeichneten Bild des Homo sapiens, sodann zur auf Stein, Ton oder Pergament fixierten Schrift, die schließlich vor knapp 600 Jahren mit der Erfindung des Buchdrucks zur immer weiteren Verbreitung von Texten und der Fähigkeit, sie zu lesen, einherging.

Der Übergang von Buch und Zeitung zu elektronisch fixierten Texten und einem nun wirklich weltumspannenden Medium, an dem alle partizipieren können, so sie nur über die entsprechende apparative Ausstattung verfügen, führte zur Herausbildung einer nun wirklich universalen Kommunikations- und Interpretationsgemeinschaft.

kommentar Damit aber kommt die jüdische Religion in ihr Eigenes – war sie doch schon immer eine Religion der Schrift und des Kommentars. Davon zeugen nicht nur die bereits 1523 gedruckten Ausgaben des Talmud, sondern auch schon seine Handschriften: Sie lassen sich auch als Protokolle von Gemeinschaften verstehen, die über Zeit, Raum und Generationen hinweg zu ihren jeweiligen Deutungen und denen ihrer Vorgänger Stellung nehmen.

Nun kann kein Zweifel daran bestehen, dass Judentum, Christentum und Islam grundverschiedene Vorstellungen von Gott und damit den Beziehungen der Menschen zu Gott hegen. Entsprechend haben diese Religionen unterschiedliche Formen ausgebildet: Während im Christentum Gottes Wort zum Menschen wurde, manifestierte es sich in Judentum und Islam in Schrift und Buch.

Im Judentum gar wurde das Kommentieren von Gottes Wort zur eigensten Form. Im Talmud, im Traktat Bawa Mezia (59 a/b), streiten sich die Rabbanim über eine Auslegung – so sehr, dass einer von ihnen immer wieder Wunder zur Bestätigung seiner Auslegung bewirken und schließlich sogar eine himmlische Stimme bemühen kann.

skeptiker Doch überzeugte noch nicht einmal dies die Mehrheit der Skeptiker: »Da stellte sich Rabbi Jehoschua auf seine Füße und sagte: ›Nicht im Himmel ist sie.‹ Was bedeutet ›Nicht im Himmel ist sie‹? Rabbi Jirmeja sagte: dass die Weisung schon am Berg Sinai gegeben worden ist. Wir kümmern uns nicht um eine Art Stimme, denn schon am Berg Sinai hast du in die Weisung geschrieben: ›Sich zur Mehrheit neigen‹.«

Mit dem Internet, mit der elektronischen Publikation des Tenach, allen Varianten des Talmud sowie rabbinischer Responsen und mystischer Traktate aus seiner Tradition kommt das Judentum als Religion der Schrift und damit des Kommentars zu sich selbst – ein Prozess, der vor etwa 3500 Jahren am Sinai seinen Anfang nahm.

Der Autor ist Erziehungswissenschaftler und Publizist.

Basel

Basler Rabbiner übersetzt Talmud-Traktat über Purim 

Zu seinem Abschied hat Moshe Baumel das kürzeste Talmud-Traktat ins Deutsche übersetzt

 25.03.2024

Wajikra

Sozial gestaffelt

Die Tora lehrt, dass arme Menschen für ihre Vergehen Tauben statt Schafe oder Ziegen opfern müssen

von Rabbiner Avraham Radbil  22.03.2024

Purim

Der große Plot-Twist

Von der Megillat Esther lernen wir, das Schicksal zu wenden und unsere Zukunft besser zu gestalten

von Rabbiner Akiva Adlerstein  22.03.2024

Berlin

Purim für Geflüchtete

Rabbiner Teichtal: »Jetzt ist es wichtiger denn je, den Geflüchteten die Freude am Feiertag zu bringen«

 21.03.2024

Berlin

Neue Ausstellung über Sex im Judentum

Zu sehen sind rabbinische Schriften, Skulpturen, Filme, Fotografien, tiktok-Videos, Ritualgegenstände und Gedichte

 21.03.2024

Talmudisches

Vom Wert der Arbeit

Was unsere Weisen darüber lehrten, warum man seinen Beruf schätzen sollte

von Yizhak Ahren  21.03.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 18.03.2024

Pekudej

Ort des Gebens

Die Tora lehrt, warum »das jüdische Haus« von so grundlegender Bedeutung ist

von Rabbiner Bryan Weisz  15.03.2024

Talmudisches

Die Eule – Symbol der kommenden Zeit

Was unsere Weisen über den nachtaktiven Vogel lehren

von Chajm Guski  15.03.2024