Porträt der Woche

»Kochen hat etwas Heilsames«

Nurit Chaskiel leitet Kochkurse und serviert am Sederabend ein jemenitisches Menü

von Annette Kanis  03.04.2017 18:57 Uhr

»Ausgerechnet ich musste mich in einen Deutschen verlieben«: Nurit Chaskiel (61) lebt in Solingen. Foto: Alexandra Roth

Nurit Chaskiel leitet Kochkurse und serviert am Sederabend ein jemenitisches Menü

von Annette Kanis  03.04.2017 18:57 Uhr

Als Kind und Jugendliche hatte ich überhaupt keinen Bezug zum Kochen. Oder überhaupt zum Essen. Beides war mir nicht wichtig, fast schon lästig. Das Interesse am Kochen begann erst, als ich mit 19 Jahren nach Deutschland zog, nachdem ich meine große Liebe in Israel kennengelernt hatte.

Je älter ich wurde, desto mehr Gefallen fand ich daran – vor allem am Aspekt des Kreativen und Geselligen, der damit verbunden ist. Also begann ich, privat für Freunde zu kochen. Später wurde daraus berufliches Interesse, als mich eine Freundin, die italienische Kochkurse leitete, fragte, warum ich nicht jüdisches Essen anbieten würde. Aber die jüdische Küche ist eine koschere Küche, dafür wären die Räumlichkeiten gar nicht geeignet gewesen. Doch für mich war es ein Denkanstoß. Dadurch bin ich ganz zurückgegangen zu meinen Wurzeln.

Sefardisch Ich bin eine sefardische Jüdin. Meine Großeltern stammen aus Nordjemen. Die jemenitische ist nicht gerade eine faszinierende Küche, aber auch sie gehört zu der vielfältigen Esskultur, die man in Israel kennt. Vor etwa 20 Jahren begann ich dann, Kochkurse zu geben – zunächst in einer Familienbildungsstätte in Solingen, später auch an anderen Orten wie einer Kochschule in Düsseldorf.

In meinen Kursen zum orientalischen Kochen spielt auch die arabische Küche eine Rolle. Ich achte darauf, dass es keine politischen Gesprächskreise werden. Ich stelle mich nicht als Jüdin vor, andere präsentieren sich auch nicht als evangelisch, muslimisch oder was auch immer.

Im Laufe des Abends biete ich dann an, mehr über mich zu erzählen, falls Interesse besteht. Dann erfahren die Teilnehmer, dass ich ursprünglich aus Israel komme. Das polarisiert meist für ein paar Minuten. Manche fangen an, über ihren letzten Israelbesuch zu reden, andere schweigen betreten. »Ist sie Palästinenserin oder Jüdin?«, fragen sich einige. Ein wenig erzähle ich dann von mir, aber am wichtigsten finde ich, dass Kochen über Länder- und Kulturgrenzen hinweg verbindet.

Es kommen ganz unterschiedliche Teilnehmer in die Kurse: Deutsche, Libanesen, Marokkaner. Jeder eben, der sich für orientalisches Kochen interessiert. Die Teilnehmer kommen oft gestärkt aus dem Kurs, auch wenn sie keine Kocherfahrung haben. Es ist einfach ein besonderes Erlebnis. Ich sage immer: »Ihr müsst keine Kochprofis sein, es geht um die Leidenschaft und die Freude am gemeinsamen Gestalten.«

Walnüsse »Learning by doing« finde ich gut. Wir legen gleich los, sobald ich die Rezepte verteilt habe. Das Ganze ist vom Ablauf so konzipiert, dass es nicht in Stress ausartet. Ich flitze von einem zum anderen, bin immer ansprechbar und habe den Gesamtüberblick. Im Alltag wirke ich öfter mal unkonzentriert und sehr lebhaft, aber in den Kochkursen werde ich oft auf meine Ruhe angesprochen, die ich offenbar ausstrahle. Ich bin dann einfach in meinem Element. Nach einem solchen Kurs gehe ich mit einem guten Gefühl nach Hause und sage mir: Was für ein Geschenk, dass ich meinen Beruf so gern ausübe.

Daneben biete ich sogenannte Kochprojekte zur jüdischen Küche an. Hier verbinde ich das Ausprobieren von Rezepten aus der jüdischen Küche mit Erklärungen zur jüdischen Kultur und Tradition. Dabei hilft mir ein Tisch mit symbolhaften Kultusgegenständen, anhand derer ich zum Beispiel religiöse Feste wie Pessach oder Chanukka erkläre. Bei den Rezepten stehen Klassiker, die jeder mit der jüdischen Küche verbindet, im Mittelpunkt. Aber ich achte darauf, auch einmal eine modernisierte Version vorzustellen. Zum Beispiel wird Gefilte Fisch bei mir auch als Lachsterrine zubereitet statt als Frikadelle.

Interessant ist auch die unterschiedliche Zubereitungsweise von typischen Speisen, je nachdem, ob man sie nach der sefardischen oder aschkenasischen Tradition zubereitet. Für Pessach zum Beispiel die Charosset – die sefardische mit Walnüssen, Datteln und Granatapfel ist reicher an Zutaten als die aschkenasische Variante mit Äpfeln.

In Deutschland erlebt man Feiertage wie Pessach anders als in Israel: Dort spürt man auf der Straße eine besondere Atmosphäre, etwa, wenn ich bei meiner Mutter auf der Terrasse sitze und die Männer mit dem Tallit zu Fuß aus der Synagoge kommen sehe. In diesem chaotischen, unruhigen Land kommt an Feiertagen so eine himmlische Ruhe auf, eine zauberhafte Atmosphäre. Das empfinde ich als sehr kostbar.

symbolik Je älter ich werde, desto mehr betrachte ich auch die Symbolik von Pessach. Dass man das Fest, diese Erinnerung an den Auszug aus Ägypten, feiert als Symbol für Erneuerung, für Neuanfang auch im spirituellen Sinn.

Aufgewachsen bin ich im Großraum Tel Aviv. Dann lernte ich mit 18 Jahren meinen Mann kennen. Er kam aus Deutschland. Nachdem wir knapp zwei Jahre in Israel gelebt hatten, kamen wir hierher. Das war Mitte der 70er-Jahre. Damals zu sagen: »Ich gehe nach Deutschland«, war etwas völlig anderes als heute. Heute gilt Berlin als cool, viele Israelis leben dort. Aber damals war man in Israel sehr skeptisch gegenüber Deutschland.

Unsere Nachbarn waren Holocaust-Überlebende, sodass ich mich vorbeigeschlichen habe, wenn ich zu Besuch kam. Damit sie mich nicht sehen, weil ich ihnen kaum in die Augen blicken konnte. Ausgerechnet ich musste mich in einen Deutschen verlieben! Wir haben damals quasi bewiesen, dass das geht. Mein Mann war mit einem Vater aufgewachsen, der eine Nazi-Vergangenheit hatte. Und wir haben uns davon frei gemacht – von allen Klischees.

Wir haben 40 Jahre zusammengelebt. Vor gut einem Jahr ist er verstorben. Es war wirklich eine sehr schöne Liebesgeschichte. Aus ihr sind zwei Töchter entstanden. Und inzwischen bin ich zweifache Großmutter.

wurzeln
Solingen hätte ich nicht gerade als meine Wahlheimat ausgewählt, aber mein Mann kam hierher, und ich habe mich dann auch gut eingelebt. Jetzt, mit zunehmendem Alter, genieße ich das Grüne, die Natur, dass man überall schnell im Wald ist. Hier erde ich mich, wenn ich beruflich in Großstädten wie Köln und Düsseldorf zu tun habe.

Meine Familie lebt noch in Israel, ich besuche sie regelmäßig. Ich habe lange gebraucht, um sagen zu können, dort ist die Heimat, dort sind meine Wurzeln, und hier ist mein Zuhause. Wenn ich in Israel bin, ist es manchmal auch ein bisschen verwirrend. Weil alles vertraut ist, aber trotzdem gehöre ich nicht mehr wirklich dazu. Doch Israel wird mich immer als Land faszinieren.

Die Menschen dort, dieses Bunte, diese Kultur wird mich immer anziehen. Esskultur geht über den Glauben, über die politischen Konflikte hinaus. Das erlebe ich auch in Israel. Den besten Hummus machen die Araber. Wir fahren dann einfach hin und gehen Hummus essen. Juden und Araber sitzen dort zusammen.

Als ich nach Deutschland kam, war ich anfangs ziemlich entsetzt über die traditionelle deutsche Küche, speziell hier im Bergischen Land. Hier isst man viele Eintöpfe. Ich wunderte mich über das Aussehen der Gerichte. Inzwischen mag ich auch Möhreneintopf und im kalten Winter Grünkohl oder Spitzkohl. Aber zu Hause koche ich weiterhin vorwiegend orientalisch.

klischees Neben dem Kochen interessiere ich mich sehr für Psychodrama. Für diese Therapietätigkeit habe ich sechs Jahre eine Ausbildung gemacht. Psychodrama ist eine aus meiner Sicht wunderbare Form der Therapie: Der Einzelne bekommt die Möglichkeit, dass seine eigenen Themen, die er erarbeiten möchte, in Szene gesetzt werden, anstatt sie in einem verbalen Therapiegespräch zu bearbeiten.

In meinen Kochkursen macht es mir Freude, zu merken, wie so ein Abend beginnt und wie er endet. Anfangs sind die Menschen einander vollkommen fremd, jeder hat seine Klischees, Wertvorstellungen und Vorurteile. Aber im Laufe des Abends verbindet sich die Gruppe, und man merkt, dass es eigentlich gar nicht wichtig ist, woher man kommt. Denn noch wichtiger sind die Offenheit und die Bereitschaft, überhaupt zusammenzukommen.

Es müssen nicht alle gern kochen. Ich bewerte Menschen nicht danach. Ich kenne viele Leute, die sagen, dass sie total gern essen und genießen, aber eben nicht gern kochen. Für sie ist Kochen ein Stressfaktor. Für mich selbst jedoch hat Kochen etwas Heilsames.

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