Porträt der Woche

Worte mit Bedeutung

»Das Sujet meines Buches ist eine Allegorie«: Ron Segal (36) hat derzeit ein Jahresstipendium für das Stuttgarter Schriftstellerhaus. Foto: Christian Ignatzi

Ich bin 1980 in Israel geboren, in einer kleinen Stadt 30 Minuten südlich von Tel Aviv. Später habe ich in Tel Aviv gelebt. Ich habe keine Angst, wenn ich in Israel bin. Selbstverständlich nicht. Es gibt ja »Iron Dome«: Keine Bombe kommt da durch. Du siehst eine kleine Wolke am Himmel, und das war es. Das ist surreal.

Meine Familie und Freunde leben in Israel: meine Eltern, zwei ältere Brüder und meine Oma. Sie kommt ursprünglich aus Berlin, so wie die gesamte Familie meiner Mutter. Sie waren damals Flüchtlinge, die 1938 direkt nach der Pogromnacht geflohen sind, also gerade noch rechtzeitig. Der Bruder und die Mutter meiner Großmutter sind in Berlin geblieben und wurden in Riga ermordet. Mit der Schoa habe ich mich später intensiv beschäftigt.

recherche Nach dem Schulabschluss und der Armeezeit bereiste ich die USA, den Fernen Osten, Deutschland und die Schweiz, ehe ich nach Israel zurückkehrte und vier Jahre an der Sam Spiegel Film and Television School, der Filmhochschule in Jerusalem, studierte. Seit 2009 lebe ich mit Unterbrechungen in Berlin.

Dorthin hatte mich ein Stipendium des Deutschen Akademischen Austauschdienstes (DAAD) geführt. Dabei ging es um eine Recherche an der Freien Universität (FU) in den digitalen Archiven der Shoa Foundation – dem Projekt von Steven Spielberg, nachdem er Schindlers Liste gedreht hatte. An der FU gibt es eine Sammlung von 52.000 Videos. Das längste dauert etwa neun Stunden, das kürzeste vielleicht 40 Minuten. Man sagt, dass es zwölf Jahre dauern würde, wenn man alle Filme nacheinander anschauen würde.

Nach meiner Ankunft in Berlin machte ich mich sofort an die Arbeit. Dafür brauchte ich etwa 18 Monate. Ich habe etwa 1000 Filme gesehen und immer nach guten Geschichtenerzählern gesucht. Bei so vielen Videos bekommt man viele unterschiedliche Geschichten. Manche erzählen die gleiche Story vom gleichen Ort, aber so anders, dass man sich fragt: Welche von beiden kann stimmen? Was ist die Wahrheit?

fiktion Die Interviewer waren keine Profis, sondern Freiwillige, die Fragen stellten wie: »Erzähl einmal von deiner Kindheit.« Man kann fünf Minuten oder 15 Stunden lang erzählen. Das war gut für meine Zwecke, weil ich wählen konnte, was mich interessiert. Angst davor, dass mich die Interviews emotional zu sehr treffen würden, hatte ich nicht. Jemand hatte vorher zu mir gesagt: »Pass auf, das macht einen verrückt!« Aber ich bin ja in Israel geboren und aufgewachsen. Ich habe schon viel gehört, bereits einige Schoa-Überlebende während meiner Schulzeit kennengelernt. Ich muss sagen, ich bin daran gewöhnt.

Umso mehr haben mich viele Geschichten überrascht – wegen ihres Humors. Der jüdische Humor ist sehr speziell. Je älter die Menschen sind, desto mehr blitzt er auf. Es gibt viele Großmütter und Großväter, die ihre Geschichte erzählen – und zwar mit viel Humor, trotz all der schrecklichen Dinge, die sie erlebt haben. Es kam mitunter sogar vor, dass ich laut gelacht habe.

Am Ende entstand daraus mein erster Roman, Jeder Tag wie heute. Es geht darin um einen sehr alten israelischen Schriftsteller, einen Schoa-Überlebenden, der an Alzheimer leidet. Er versucht, seine Erinnerungen aufzuschreiben, bevor sie seinem Gedächtnis entgleiten. Aber die Krankheit ist schon zu weit fortgeschritten – er kann es nicht mehr. Also schreibt er seine eigene Geschichte, die auch Fiktion enthält, nur, um eine eigene Geschichte zu haben.

agentur Ich habe das Buch aus der Perspektive der dritten Generation geschrieben. Selbst wenn die Hauptfigur ein Schoa-Überlebender ist. Das war meine Verknüpfung zwischen erster und dritter Generation. Ich betrachte dieses Buch nicht als Teil der sogenannten Holocaust-Literatur, sondern vielmehr als Teil der »Post-Holocaust-Literatur« – wenn wir diesen Begriff überhaupt schon benennen können.

Jeder Tag wie heute erschien 2010 in Israel und 2014 in Deutschland. Ich habe in Berlin eine Agentur. Dadurch ist der Kontakt mit dem Verlag entstanden. Ich hatte damals schon eine englische Übersetzung. Um sie zu ermöglichen, verkaufte ich sogar mein Auto. Das war lustig, weil ich dem Übersetzer sagte, dass ich kein Geld hätte, er aber die Summe aus dem Autoverkauf bekommen würde. Ich glaube, er dachte: »Toll!« Aber das Auto war sehr alt. Ich bekam immerhin 1000 Euro dafür.

Mein Agent und mein Verleger haben dann die Übersetzung vom Hebräischen ins Englische gelesen. Sie zahlten schließlich für die deutsche Übersetzung. Eine Buchveröffentlichung in Israel ist viel einfacher. Ich habe einen Freund, der Lektor ist. Er hat mich einem Verlag empfohlen, der Verlag hat mein Buch herausgegeben. Kontakte können helfen. Die Welt ist klein, und die jüdische Welt ist noch kleiner.

gemeinde Das Schreiben habe ich nie gelernt. Aber schon als Kind schrieb ich Kurzgeschichten. Meine ursprüngliche Idee war, ein Drehbuch zu schreiben. Ich merkte aber schnell, dass ich kein Drehbuch schrieb, sondern Prosa. Inzwischen adaptiere ich das Buch und mache einen Zeichentrickfilm daraus. Es ist eine große Herausforderung, sein eigenes Buch zu adaptieren. Man muss »outside the box« denken.

Das jüdische Leben in Deutschland kenne ich aus Berlin. Dort habe ich Kontakte zur Jüdischen Gemeinde und zur Botschaft. Mein Großvater war nationalreligiös. Er sagte, Glauben ist etwas zwischen mir und Gott. Das hat nichts mit anderen Menschen zu tun. Das ist etwas Persönliches. Und so ist das für mich. Ich bin traditionell – wie viele Israelis – und begehe die Feiertage.

Auch in Stuttgart war ich schon zu Besuch in der Israelitischen Religionsgemeinschaft. Nach den ersten Wochen gefällt es mir sehr gut in dieser Stadt. Eine Bekannte hatte mir von dem Stipendium im Schriftstellerhaus erzählt. Diese Förderung ermöglicht es mir, in diesem Jahr meinen zweiten Roman zu schreiben.

katzenaufstand Das Buch, an dem ich gerade arbeite, ist eine schwarze Komödie mit dem Arbeitstitel Katzenmusik. Es geht um einen Katzenaufstand, der nach dem Sechstagekrieg in Jerusalem ausbricht, 1967, als die Stadt mit Tausenden Katzen aus den kürzlich besetzten Gebieten überflutet wird. Da es niemanden gibt, der sie füttert, gehen die Katzen auf die Suche nach Nahrung.

Dann gibt es viel zu viele von ihnen und viel zu wenig Essen. Sie fangen an, Mäuse und Insekten zu verzehren, dann größere Tiere wie Hunde und schwache Katzen. Und am Ende fressen sie die Menschen. Das führt zu einem Krieg zwischen Mensch und Katze. Das Sujet ist eine Art Allegorie – sowohl für die damalige Situation in Israel als auch für die derzeitige Flüchtlingskrise in Europa.

Ich habe großen Respekt vor Angela Merkel und für das, was sie für Flüchtlinge getan hat. Ich kann nur hoffen, dass sie Regierungschefin bleibt, um die zweite Phase zu gestalten. Die Tür zu öffnen, das ist schon großartig, aber die Integration ist die wirkliche Herausforderung. Vor allem in Zeiten, in denen jemand wie Donald Trump Präsident der Vereinigten Staaten und damit der »leader of the free world« geworden ist.

Ich glaube, dass er jetzt im Weißen Haus sitzt, heißt zuzugeben, dass Wörter ihre Bedeutung verloren haben: Man kann alles sagen, was man will. Egal, ob man es meint oder nicht, ob es stimmt oder nicht. Später kann man sagen, ohne sich entschuldigen zu müssen: »Es tut mir wirklich leid, dass du es nicht richtig verstanden hast.«

Für mich als Schriftsteller sind Wörter ohne Bedeutung nicht akzeptabel. Obama hat keinen guten Ruf in Israel, aber ich glaube, das war falsch. Man benutzt das Stigma »Antisemit« viel zu schnell, ohne nachzudenken. Obama ist kein Antisemit. Er hat Israel großartig unterstützt, mit so viel Geld, auch für Iron Dome. Bei Trump hingegen weiß man nicht, was er als Nächstes tun wird.

lesungen Am Ende des Jahres als Stipendiat in Stuttgart werde ich für zwei Monate nach Wien fahren. Insgesamt hatte ich fünf oder sechs Stipendien. Sich für Stipendien zu bewerben, ist auch eine Art Beruf. Das ist eine tolle Sache in Deutschland – in Israel haben Autoren nicht so viele Möglichkeiten.

Als Schriftsteller weiß ich es zu schätzen, Zeit und einen Ort zum Schreiben zu haben. Leben kann ich davon allerdings nicht: Ich verdiene derzeit mehr mit Lesungen als mit dem Buch selbst. Doch vor Kurzem habe ich begonnen, in Schulen zu lesen. Die Begegnung mit Schülern finde ich toll.

Nach sieben Jahren in Berlin habe ich mich gut eingelebt. Meine Freundin ist Deutsche. Sie kommt aus München, wir haben uns in Israel kennengelernt. Ich finde es immer noch unglaublich, dass ich heute in Deutschland leben und deutsche Freunde haben kann.

Aufgezeichnet von Christian Ignatzi

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