Porträt der Woche

»Einfach ist das alles nicht«

Abba Naor war erfolgreicher Gastronom und berichtet heute als Zeitzeuge an Schulen

von Katrin Diehl  02.01.2017 18:48 Uhr

»Ich begann mit einer Imbissbude am Bahnhof«: Abba Naor (88) lebt in München und Rehovot. Foto: Christian Rudnik

Abba Naor war erfolgreicher Gastronom und berichtet heute als Zeitzeuge an Schulen

von Katrin Diehl  02.01.2017 18:48 Uhr

Wenn ich in München bin, lebe ich im Hotel, und zwar immer in demselben. Ich wohne da so zwei, drei Monate. Die Lage des Hotels ist gut, die Gegend eher nicht. Dafür besteht die Möglichkeit, sein Auto in einer Garage unterzubringen. Keine Selbstverständlichkeit in der Münchner Innenstadt.

Das Auto gehört übrigens nicht mir, sondern der Stiftung Bayerische Gedenkstätten. Die ermöglicht mir den Aufenthalt mit allem, was dazugehört. So sorgt sie etwa auch für einen gut koordinierten Zeitplan. Den bekomme ich ausgedruckt auf einem DIN-A4-Papier, sodass ich mir über die nächsten Wochen ein Bild machen kann. Ich bin so gut wie jeden Tag an einer Schule. Da verbringe ich dann den Vormittag. Kommen Gruppen ins Jugendgästehaus nach Dachau, dann betrifft das eher meinen Nachmittag. Bin ich bei der Bundeswehr, veranstaltet diese oft Seminare – und die finden dann an den Wochenenden statt.

Ich bin ein Überlebender, und es ist mir ein tiefes Bedürfnis, den jungen Menschen meine Geschichte zu erzählen. Dabei gehe ich mit Bedacht vor. Ich setze mich zum Beispiel nie vorne hin. Ich gehe herum, versuche, den Kindern in die Augen zu schauen, einen Kontakt herzustellen. Dass mir das gelingt, bestätigen mir Hunderte von Briefen. Bin ich zwei Monate hier, kann man davon ausgehen, dass ich 3000 Jugendliche treffe. Übers Jahr betrachtet, stehe ich vor rund 10.000 jungen Menschen.

Ich bin jetzt 88 Jahre alt, und wenn man mich fragt, wie ich das alles schaffe und wie ich es schaffe, noch so fit zu sein, dann sage ich augenzwinkernd: »Na ja, vielleicht lautet mein Rezept, nicht zum Arzt zu gehen.« Ich lasse mich nur alle drei Monate dort blicken, hole meine Medikamente, das war es.

odyssee Geboren wurde ich als Abke Nauchowicz am 21. März 1928 in Kaunas, der damaligen Hauptstadt Litauens. Dort hatte ich, so kann man sagen, bis kurz vor meiner Barmizwa ein ganz normales Kinderleben. Es endete am 22. Juni 1941. Ich erinnere mich an jeden Tag, als wäre er gestern gewesen.

An diesem Tag bombardierte die deutsche Luftwaffe Kaunas, drei Tage später marschierten die Deutschen ein. Wir mussten ins Ghetto von Kaunas umziehen, wo mein älterer Bruder Chaim von der SS erschossen wurde. 1944 wurden wir ins KZ Stutthof bei Danzig deportiert. Ich wurde von meinem Vater Hirsch getrennt und musste mitansehen, wie meine Mutter Chana und mein kleiner Bruder Berale nach Auschwitz abtransportiert wurden. Ich habe sie nie wiedergesehen.

1944 meldete ich mich freiwillig für das Lager Kaufering I, eines der berüchtigten Außenlager des KZ Dachau. Ich hoffte, dort wieder auf meinen Vater zu stoßen, schleppte täglich unter brutalsten Bedingungen 50 Kilogramm schwere Zementsäcke.

Mit 17 Jahren wurde ich auf dem Todesmarsch bei Waakirchen, ungefähr zehn Kilometer östlich vom oberbayerischen Bad Tölz, von den Amerikanern befreit. Meinen Vater fand ich 1945 in München wieder. Auf einmal stand er im DP-Lager vor mir. Als ich mich nach einer Odyssee durch halb Europa entschloss, nach Palästina auszuwandern, wollte mein Vater mich nicht gehen lassen – er hatte Angst, dass ich dort getötet werden würde. »Dann sterbe ich wenigstens wie ein Mensch«, antwortete ich. 1947 kam ich nach einem Zwangsaufenthalt auf Zypern in Palästina an.

selbsttherapie Ich sehe es als meine Pflicht an, jungen Leuten zu erzählen, was ich erlebt habe. Unsere Zeit ist ja bemessen. Ich bin mit der Letzte, der noch erzählen kann. Und ich rede ja nicht nur für mich – ich gebe denen, die nicht überlebt haben, eine Stimme. Einfach ist das alles nicht. Man muss schon irgendwie stark sein, man muss sich beherrschen können. Aber wenn ich sehe, die jungen Menschen interessieren sich, wenn ich ihre Fragen höre, dann gibt mir das etwas. Es ist eine Art Selbsttherapie.

Vor etwa 20 Jahren habe ich damit begonnen. Mein jüngster Enkel Daniel hatte mich darum gebeten, an sein Gymnasium in Hannover zu kommen. Was ich bis dahin immer abgelehnt hatte – bei meinem letzten Enkel gab ich nach. Voller gemischter Gefühle machte ich mich auf an seine Schule, wusste nicht, ob ich es überstehen würde. Ich habe es überstanden, und ich habe erfahren, dass die Kinder wirklich gar nichts wussten. Daher schrieb ich an die Kultusministerin von Niedersachsen, berichtete von meinen Eindrücken und erklärte mich bereit, weiter in Schulen zu gehen. Von da an stand das Telefon nicht mehr still. Und im Grunde ist das bis heute so geblieben.

Ich habe in den Schulen darum gebeten, immer so gegen 10 Uhr anfangen zu dürfen. Also habe ich noch Zeit, hier im Hotel zu frühstücken. Gibt es den Tag über mal ein paar ruhige Minuten, gehe ich spazieren oder bin einfach in meinem Zimmer. Da steht mein Laptop, und ich kann die Nachrichten aus aller Welt verfolgen. Die Zeit vergeht irgendwie, zumal ich ja auch noch im Internationalen Dachau-Komitee involviert bin.

reisen München ist so etwas wie meine zweite Heimat. Die erste ist Rehovot in Israel. Ich pendle zwischen Deutschland und Israel, auch weil ich hier wie da meine Familie habe, meine zwei Kinder, fünf Enkel und acht Urenkel. Fotos von ihnen trage ich immer bei mir. Sie sind mir das Wichtigste. Ende Dezember bin ich zu meinem Sohn nach Berlin gereist, dann ging es weiter nach Israel, wo zur Jahrzeit meiner Frau Lea die ganze Familie zusammenkam.

Lea entstammte einer sehr religiösen Familie aus Essen, die 1934 nach Palästina ausgewandert ist. Wir haben 1950 geheiratet. Bis heute wundere ich mich darüber, dass Leas Eltern mit mir als Schwiegersohn einverstanden waren, hatte ich doch absolut nichts zu bieten. Und mit dem da oben hatte ich auch nichts zu tun.

Im Januar reise ich mit dem Bayerischen Landtag und der Stiftung Bayerische Gedenkstätten nach Prag. Am Jom Haschoa 2015 war ich eingeladen, in der Münchner Ohel-Jakob-Synagoge zu sprechen. Ich hatte keine Rede vorbereitet, habe spontan vorgetragen. Beim Sprechen, aber auch, wenn ich für mich bin, arbeitet sich manchmal vergessen Geglaubtes nach oben. Auch Orte lassen Vergangenes wieder aufleben.

beruf Besondere Erinnerungen begleiten mich bei einem Gang durch München-Schwabing. Es sind schöne: 1965 zog ich mit meiner Familie von Israel wieder nach München. Mit dem Gehalt eines israelischen Regierungsbeamten war es nicht einfach, für eine Familie mit zwei Kindern zu sorgen. Mein Vater, der sich mittlerweile als Großhändler in München gut situiert hatte, griff uns finanziell unter die Arme. Damit schuf ich so etwas wie ein kleines Imperium.

Es begann mit einer Imbissbude in der Bahnhofsgegend. Schwabing hätte mir allerdings viel besser gefallen. Als mir zwei Leute eine Maschine für Orangensaft zum Kauf anboten, habe ich daher die Gelegenheit genutzt und gesagt: »Gut, nehme ich, wenn ihr für mich Räume im Univiertel findet.« Der Deal funktionierte: Ich eröffnete ein Lokal, lernte die Gegend kennen und bekam Lust auf mehr.

In der Türkenstraße entdeckte ich ein Lokal, das noch im Bau war. Sehr groß, sehr einladend – ein großes Restaurant mit Riesentheke. Ich mietete es und nannte es »Stop-in« – die Olympiade stand vor der Tür, und ich wollte auch internationales Publikum ansprechen. Es lief so gut, dass ein Vertreter der Brauerei kam und mir den Tipp für ein zu vermietendes Kaffeehaus gab, das »Annast« am Hofgarten. Das war eine sehr feine Adresse, und ich griff zu. Eine aufregende Zeit war das, in der ich manchmal über mich selbst staunte.

ferien Im »Stop-in« wusste kaum einer der Studenten, dass ich der Besitzer war. Ich habe mich ja nie groß aufgespielt. Mitunter haben sie gefragt: »Wer ist hier eigentlich der Chef?« Und wenn ich dann geantwortet habe: »Na ja, ich«, dann haben sie nur gelacht, weil ich ja die ganze Zeit Tische abgeräumt habe. Auf jeden Fall war das Lokal immer voll. Es gab Pizza, das war damals der Renner. Einmal habe ich Harald Juhnke hinausgeworfen, weil der stockbesoffen in meine Bar gekommen ist.

Ansonsten war schon alles sehr politisiert in den 60er- und 70er-Jahren. Ich hatte diese lange Theke, an der die jungen Leute gerne standen und redeten. Ich habe da einiges mitbekommen, mich aber so gut wie nie eingemischt. Als aber dann die großen Diskussionen um den Sechstagekrieg anfingen, konnte ich mich manchmal nicht mehr zurückhalten. Die ich zurechtgerückt habe, sind dann prompt nicht wiedergekommen. Den extrem Linken war ich zu zionistisch.

Heute gibt es das alles nicht mehr. Heute stehen für mich die Schulen im Mittelpunkt. Und wenn Ferien sind, fühle ich mich fast ein bisschen krank.

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