Peter Weiss

Die Ästhetik der Aufarbeitung

»Es ist noch nicht zu Ende«: Peter Weiss (1916–1982) Foto: Ullstein

Im Dezember 1964 besucht Peter Weiss das Vernichtungslager Auschwitz, um für sein Theaterstück Die Ermittlung zu recherchieren. Er steht dort in einer untergegangenen Welt, in der er nichts mehr tun kann. Bis ihm klar wird: »Es ist noch nicht zu Ende.«

Der Völkermord geht weiter. Nicht in Deutschland, wie zur NS-Zeit. Aber anderswo auf der Welt. In Vietnam etwa, wo die Amerikaner Napalmbomben abwerfen, und die Kriegsindustrie daran verdient. Dagegen kann er etwas unternehmen. Als Autor gibt er sich die Selbstverpflichtung, von nun an alles in seiner Macht Stehende zu tun, um das Töten zu beenden.

Motiv Es sollte nicht das einzige Mal sein, dass Auschwitz das auslösende Motiv für eines seiner Werke wurde. Am 8. November 1916 in Nowawes (Potsdam-Babelsberg) geboren, bekam Peter Weiss früh mit, was es heißt, jüdische Vorfahren zu haben. Zwar konvertierte sein Vater zum Christentum, er selbst wurde getauft. Als aber die Nazis die Macht ergreifen, gilt er plötzlich als »Halbjude«.

Die von außen zugeschriebene jüdische Identität, ohne innere Entsprechung, nannte er als Ursache für seine existenziellen Probleme: »Es ist Hintergrund für alles, was ich schreibe.« Der »Großvater im Kaftan« sei es gewesen, der ihn vor der Wehrmacht bewahrt habe. Ihm nur habe er es zu verdanken, »dass ich nicht auf der Seite der Verfolger und Henker gestanden habe«, wie seine Halbbrüder Arwed und Hans, die bei den Nazis mitmarschierten.

Als der Zweite Weltkrieg losbricht, flieht Peter Weiss ins schwedische Exil nach Alingsås; die Staatsbürgerschaft Schwedens wird er Zeit seines Lebens behalten. Dort malt er, dreht Filme und schreibt: zunächst schwedisch, ab 1952 mit Der Schatten des Körpers des Kutschers dann auf Deutsch. Als er im Frühjahr 1945 Fotos aus Auschwitz sieht, wacht er aus seiner politischen Lethargie auf. Ihm wird bewusst, dass auch er unter den Opfern hätte sein können. Als Überlebender spürt er zunehmend Schuldgefühle und fühlt sich verpflichtet, aus dem Zufall, überlebt zu haben, »etwas Bleibendes zu machen«.

Revolution Im Frühwerk arbeitete Peter Weiss sich an seiner Biografie ab. »Seelenkäse« nannte er später die Romane aus dieser Phase. »Wenn ich jetzt mit meinem Schreiben nichts ändern kann, dann ist das ganze Schreiben sinnlos«, notierte Weiss in seinen Notizbüchern, nachdem er mit Marat/Sade (1965) dialektisch das Für und Wider der Revolution durchgespielt hatte.

Im selben Jahr führte er in Ost- und Westdeutschland in einer Ringaufführung sein dokumentarisches Theaterstück Die Ermittlung auf, das auf Protokollen des Frankfurter Auschwitz-Prozesses basiert. Das Wort »Jude« kommt darin nicht ein einziges Mal vor. Trotzdem wird der Autor dem Thema, soweit es denn überhaupt möglich ist, gerecht. »Auschwitz oder welches Lager auch immer auf der Bühne darzustellen, ist eine Unmöglichkeit«, so Weiss. Schon der Versuch sei vermessen. Trotzdem müsse das Grauen eine Sprache finden.

1968 tritt Weiss in Schweden der Kommunistischen Partei bei. Als kurz darauf russische Panzer den Volksaufstand des Prager Frühlings zerschlagen, protestiert er heftig. Die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus wird von nun an sein Werk prägen, wie Werner Schmidt in seiner Biografie zum 100. Geburtstag von Peter Weiss am 8. November eindrücklich schildert. Weniger an der Vita des Schriftstellers als vielmehr an den gesellschaftspolitischen Diskursen führt er in das Werk des Autors ein.

Kapitalismus Mit Trotzki im Exil (1970) erntet der auf beiden Seiten des Eisernen Vorhanges Kritik, fühlt sich zerrieben zwischen sowjetischem Dogmatismus und westlichem Kapitalismus. Im Opus Magnum Die Ästhetik des Widerstands (1971 bis 1981) schreibt er darüber – und wendet sich ernüchtert von orthodoxen Parteimodellen ab.

Die Hoffnung auf ein besseres Leben im Kommunismus aber gibt er bis zu seinem Tod 1982, kurz bevor er den Georg-Büchner-Preis erhält, nicht auf.

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024