Überlieferung

Die Gedanken sind frei

»Die ganze Welt hat G’tt in die Herzen der Menschen gelegt.« (Kohelet 3,11) Foto: Thinkstock

Die abschließenden Tage des achttägigen Sukkotfestes haben eine besondere Lektüre, das biblische Buch Kohelet. Christliche Theologen bezeichnen das Buch als »Predigerbuch« mit dem lateinischen Namen Ecclesiastes. Der hebräische Name Kohelet bedeutet: Mitglieder der Gemeinschaft.

Die jüdische Tradition betrachtet König Salomon als den Autor dieses Buches. Es gehört zu den inhaltlich heiklen Teilen der Heiligen Schrift. Und zwar wegen der darin mannigfaltig geäußerten Skepsis. Der Autor dieses Werkes zweifelt am Sinn und an der Zweckmäßigkeit der Verteilung der irdischen Güter; zweifelt an der g’ttlichen, wie auch an der irdischen Gerechtigkeit; er zweifelt an dem G’tteslohn der Gerechten wie auch an der Bestrafung der Sünder. Und lehnt sogar die Vorstellung des Jenseits ab. Ein Sturm der Negation, der Verneinung.

Eitelkeit Wohin auch der Autor Kohelet seinen Fuß setzt, um seine Welt zu beobachten und zu prüfen, verblassen die Werte und verwelken die Wertvorstellungen wie die Blumen beim Einbruch des Winters. Nichts bleibt von ihm verschont: Die Hallen der Wissenschaft, die Vergnügungen, das Vermögen, die Macht, die Familie von der Krippe bis zum Grab. Über alles wird von ihm ein vernichtendes Urteil gesprochen. »Hakol Hewel u’Reut Ruach.« – »Alles ist Eitelkeit und Windhauch«.

Zutreffend sagt die Exegese im Midrasch, alle Werke der Welterschaffung werden vernichtet, wenn sich Kohelet ihnen nähert, alle Epochen des Menschenlebens werden ihrer natürlichen Schönheit entrissen. Wenn Kohelet einen Greis beobachtet, der von vielen Enkeln und Urenkeln umgeben, in Wohlstand und Innigkeit in seinem Heim lebt, so bemerkt er nur kalt und gefühllos: »Eine Fehlgeburt hat es besser als er, denn: Wie ein Windhauch kommt sie, ins Dunkel geht sie, im Dunkel bleibt ihr Name verhüllt. Sie hat auch die Sonne nicht gesehen und kennt sie nicht.« (Kohelet 6, 3–5)

Kanon Nach all dem, was wir über Kohelet erfahren haben, drängt sich die Frage auf: Wie kommt es, dass dieses Werk voller Zweifel, Negationen und Widersprüche, seinen Platz in der Bibel gefunden hat und zum Abschluss eines fröhlichen Festes wie Sukkot, dem Laubhüttenfest, in den Synagogen vorgelesen wird? Wie ist es zu erklären, dass Kohelet, das schon in der talmudischen Zeit durch die Synode der Rabbinen aus dem biblischen Kanon ausgeschlossen werden sollte, doch unter den Heiligen Schriften seinen Platz fand? Es ist vielleicht nützlich, jene Welt näher kennenzulernen, in der der Autor des Werkes lebte und wirkte.

Was sagt also der Autor über seine Welt aus? »Noch etwas habe ich beobachtet unter der Sonne: An der Stätte, wo man Urteil spricht, geschieht Unrecht; an der Stätte, wo man gerechtes Urteil sprechen sollte, geschieht Unrecht.« (Kohelet 3,16) Und ferner: »Dann wieder habe ich alles beobachtet, was unter der Sonne geschieht, um Menschen auszubeuten. Siehe, wie die Ausgebeuteten weinen, und niemand tröstet sie. Niemand befreit sie aus der Gewalt ihrer mächtigen Ausbeuter.« (Kohelet 4,1)

Über den Machtmissbrauch der Könige ist zu lesen: »Denn alles, wozu sich der König entscheidet, setzt er auch durch; hinter ihm steht nun einmal die Macht. Wer also kann ihm sagen: Was tust du?« (Kohelet 8, 3–4) Erstaunliches teilt uns auch der folgende Vers mit: »Nicht einmal unter Fremden schimpfe auf den König. Nicht einmal im Schlafzimmer schimpfe auf einen Reichen; denn die Vögel des Himmels könnten dein Wort verbreiten. Alles, was Flügel hat, könnte die Nachricht weiter melden.« (Kohelet 10,20)

Zufall Über die weiteren allgemeinen Zustände äußert sich Kohelet so: »Nicht den Schnellsten gehört im Wettlauf der Sieg, nicht den Tapfersten der Sieg im Kampf, weder den Gebildeten die Nahrung, noch den Klugen der Reichtum, noch den Könnern der Beifall, sondern einen jeden treffen Zufall und Zeit.« (Kohelet 9,11)

Aus diesem Gesamtbild ist zu erkennen, dass die in den meisten biblischen Büchern gepriesenen, ewigen, menschlichen Ideale wie Recht und Gerechtigkeit, Gesetz und Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, scheinbar alle verloren gingen. Die Reichen und Mächtigen laufen ihren Vergnügungen nach, genießen den Pomp; das Bild, das wir hier erblicken, zeigt den altertümlichen Jet-Set, möchte man fast meinen. Die Mittelschicht, die noch einen Sinn für die geistigen Güter hätte, sie diente einer völlig abstrakten Weltanschauung.

Ein Teil von ihnen hatte allem Anschein nach ihren Glauben an die g’ttliche Vorsehung verloren. Wieder andere fielen dem dämonischen Aberglauben zum Opfer. In dieser Welt erscheint Kohelet mit einem starken Gefühl für die Wahrheit und mit einer bestechenden Gabe für richtige, kritische Beobachtungen. All das, was er gesehen und beobachtet hatte, wirkt verwirrend auf ihn. »Auf, versuche es mit der Freude, genieße das Glück!« (Kohelet 2,1) meint der Autor des Buches, dann aber berichtet er: »Ich baute mir Häuser, ich pflanzte Weinberge an … auch Vieh besaß ich in großer Zahl … mehr als alle meine Vorgänger in Jerusalem. Ich hortete auch Silber und Gold … ich versagte meinem Herzen keine einzige Freude … doch dann dachte ich über alle meine Taten nach. Das Ergebnis: Alles ist Windhauch und Luftgespinst. Es gibt keinen Gewinn unter der Sonne.« (Kohelet 2, 4–11)

Experiment Dann unternimmt er einen Besuch bei denen, die sich vom leichten Leben fernhalten, bei denen, die im strengen Glauben leben. Er muss jedoch bald entdecken, dass er einer bunten Traumwelt nacheifert. Er fühlt sich allein, mit sich selbst in Konflikt geraten, ermüdet und ausgelaugt von den vielen Experimenten und Versuchen. Dann, eines Tages, erlebt er etwas, das sich vielleicht auf ein geschichtliches Ereignis stützt: »Es war einmal eine kleine Stadt, die hatte nur wenige Einwohner. Ein mächtiger Herrscher zog gegen sie aus. Er schloss sie ein und baute gegen sie hohe Belagerungstürme. In der Stadt fand sich ein armer, aber gebildeter Mann. Dem gelang es, die Stadt durch seine Weisheit zu retten. Später aber wollte sich kein Mensch mehr an diesen Retter erinnern.« (Kohelet 9, 14–15)

Diese schlichte, einfache Geschichte beeindruckt Kohelet sehr und beeinflusst seine Gedanken. Vielleicht bildet der einzelne Mensch auch eine solche kleine Stadt für sich, denkt er. Vielleicht ist er, den die grausamen Mächte des Lebens ununterbrochen belagern, auch voller Widersprüche. Vielleicht sind wir doch in der Lage, den wahren Meister der Lebensweisheit in uns selbst zu finden, jemanden, der es fertig brächte, die Feinde aus unseren Mauern zu vertreiben. Kohelet denkt nach und fasst zusammen, was er herausgefunden hatte: »G’tt hat die Menschen rechtschaffen gemacht, aber sie haben sich in allen möglichen Kalkülen versucht.« (Kohelet 7,29)

Gesellschaft Die Stimme aus seinem Inneren, das Gewissen, führt ihn ins Leben zurück. »Die ganze Welt hat G’tt in die Herzen der Menschen gelegt« (Kohelet 3,11), so spornt ihn seine Stimme an. So findet Kohelet wieder einen Sinn in seinem Leben, indem er für seine Mitmenschen arbeitet, zum Wohle der Gesellschaft und dabei Freude und das wahre Glück findet. Es gibt also doch in dieser Geschichte G’ttes Gerechtigkeit, spricht die Stimme in seinem Inneren und bringt ihm Erfüllung und Befriedigung in seinem Kampf mit dem altertümlichen Zeitgeist.

Die Lehre aus dem Buch Kohelet zeugt vom freien, schöpferischen Denken des klassischen Judentums. Die Möglichkeit besteht immer, dass es manchmal ins eine oder andere Extrem ausschweift, wird aber nie zu einer alles leugnenden, pessimistischen Grundeinstellung. Die jüdische Denkart kennt kein philosophisches Labyrinth. Für den Juden gilt als Leitfaden und Wegweiser das Schlusswort des Buches: »Fürchte G’tt und achte auf Seine Gebote.«(Kohelet 12,13) Deshalb wird am Ende des Laubhüttenfestes immer wieder in unseren Synagogen dieses Buch gelesen, im völligen Einklang mit der herbstlichen Stimmung der Natur.

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