Glossar

Regen

Ohne Wasser gibt es kein Leben, und doch kann der Regen beides sein: Leben spendend und zerstörend. In jedem Fall ist er eine Gabe des Ewigen; der Mensch erzeugt ihn nicht aus eigener Kraft

von Rabbinerin A. Yael Deusel  25.04.2016 17:15 Uhr

Mit der Tefilat Geschem bitten wir den Ewigen um Regen – aber nur bis zum Beginn von Pessach. Foto: Thinkstock

Ohne Wasser gibt es kein Leben, und doch kann der Regen beides sein: Leben spendend und zerstörend. In jedem Fall ist er eine Gabe des Ewigen; der Mensch erzeugt ihn nicht aus eigener Kraft

von Rabbinerin A. Yael Deusel  25.04.2016 17:15 Uhr

So werde Ich den Regen eures Landes zur richtigen Zeit geben, Frühregen und Spätregen, und du wirst dein Getreide einsammeln, deinen Most und dein Öl» (5. Buch Mose 11,14). So spricht der Ewige, und so lesen wir es zweimal täglich im Schma Jisrael, sommers wie winters. Frühregen und Spätregen, Jore und Malkosch – das heißt nichts anderes, als dass der Ewige die Regenzeit beginnen lässt, etwa Ende Oktober bis Mitte November, im Cheschwan also, und dass Er es auch wieder aufhören lässt zu regnen, im Nissan, rechtzeitig vor Beginn der Schnitternte.

Im Achtzehnbittengebet, der Amida, beten wir von Schemini Azeret bis Erew Pessach «der den Wind wehen und den Regen fallen lässt», vom ersten Tag Pessach bis Schemini Azeret dagegen «der den Tau herabbringt», und zwar jeweils als Einschub in der Bracha, die von der Allmacht des Ewigen spricht, dem Herrn über Leben und Tod. Wohlgemerkt erwähnen wir diese Geschenke des Ewigen hier nur. Die eigentliche Bitte darum bringen wir (wochentags) zum Ausdruck im Birkat Haschanim, dem Gebet für ein segensreiches Jahr.

Tefilat Geschem Haben wir im Mussafgebet zu Schemini Azeret die Tefilat Geschem gesprochen, das Gebet um Regen, so bringen wir am ersten Tag Pessach die Tefilat Tal vor den Ewigen, die Bitte um Tau. Alles zu seiner Zeit! Würde der oft heftige Regen des Winters nach Pessach fallen, so wäre er kaum zum Segen, sondern würde womöglich gar die Ernte zerstören.

Dennoch braucht das Land auch im Sommerhalbjahr Wasser, damit die Erde nicht ausdörrt. Deshalb bitten wir nun um eine milde Bewässerung durch das Fallen des Taus. Zu viel Wasser zur falschen Zeit kann ebenso schädlich sein wie zu wenig Wasser. Sehr deutlich führt uns dies die Geschichte von Choni, dem Kreiszieher, vor Augen. Als er in einem recht trockenen Adar um Regen betete, tröpfelte es nur ein wenig, und die Umstehenden beklagten die spärliche Wassermenge. Da betete Choni um mehr Regen, genug, um Brunnen, Gräben und Zisternen zu füllen, und es ging ein gewaltiger Starkregen nieder. Wieder beschwerten sich die Leute, und Choni betete ein drittes Mal, diesmal um ausreichend Regen, der jedoch zum Segen und zur Wohltat für Mensch und Natur sein sollte.

So geschah es, und irgendwann war es genug. Aber der Regen wollte nicht enden. Da kamen die Leute wieder zu Choni und ersuchten ihn, darum zu beten, dass der Regen aufhören soll. Das tat Choni, aber vorher rügte er seine Mitmenschen: «Es ist mir überliefert, dass man wegen übermäßiger Güte nicht flehe.»

Schaden Zum Segen, nicht zum Fluch; zum Leben, nicht zum Tod; zur Sättigung, nicht zur Hungersnot – so beten wir einmal um Tau, ein andermal um Regen. Beides liegt in der Hand des Ewigen, und beides kann nützlich oder auch schädlich sein. G’tt behüte, dass durch die Erfüllung dessen, worum wir Ihn gebeten haben, womöglich Schaden entsteht!

Dies lehrt uns, in allem das rechte Maß im Auge zu haben, nicht nur für uns, sondern auch für unsere Mitmenschen. So sprechen wir zwar die Tefilat Geschem an Schemini Azeret, aber wir beten im Birkat Haschanim erst ab Anfang Dezember um Regen – ein Beispiel für die Rücksichtnahme auf diejenigen, die einst nach dem Wallfahrtsfest Sukkot unterwegs waren von Jerusalem in entlegene Teile des Landes, und die auf dem Heimweg nicht durch den Regen zu Schaden kommen sollten.

Ohne Wasser gibt es kein Leben, und doch kann der Regen beides sein: Leben spendend und zerstörend. In jedem Fall ist er eine Gabe des Ewigen; der Mensch erzeugt ihn nicht aus eigener Kraft. Damit stellt der Regen ein doppeltes Symbol dar: Zum einen erinnert er uns daran, dass der Ewige – und nicht der Mensch – Schöpfer und Herr der Welt ist. Und gleichzeitig ermahnt er uns zu verantwortungsvollem Denken, Reden und Handeln gegenüber der Umwelt ebenso wie gegenüber uns selbst und unseren Mitmenschen.