Pro & Contra

Müssen wir Assimilation bekämpfen?

Pro
Kritik an interreligiösen Ehen ist heute so gut wie ausgeschlossen. Selbst der Begriff zeigt uns, dass sich die Zeiten geändert haben. Früher hat man sich deutlicher ausgedrückt und von »gemischten« Ehen und Assimilation gesprochen. Heute soll man Samthandschuhe anziehen, 1000-mal nachdenken und dann so diplomatisch wie möglich sein, um darüber zu reden oder, noch schlimmer, darüber zu schreiben. Denn das ist nicht modern. Oder? Wir leben doch in einer Gesellschaft, in der man niemanden ausgrenzen soll. Egal ob Jude oder Nichtjude – Hauptsache, ein guter Ehepartner, werden viele sagen. Und das Judentum?

Mich quält das ein bisschen. Ich brauche nicht erst aus der Tora zu zitieren, um deutlich zu machen, dass unsere Tradition die jüdische Ehe lehrt und uns die Partnerschaft mit einem nichtjüdischen Ehepartner verbietet. Dennoch gibt es vor allem in der Diaspora nicht wenige solcher Ehen. Wie soll man damit umgehen? Ist das ein Problem? Oder vielleicht sogar ein Vorteil? Sollen wir diese Familien öffentlich kritisieren – oder ausdrücklich loben?

Die Entscheidung eines Menschen, einen nichtjüdischen Partner zu heiraten, ist eine Lebensentscheidung. Bevor die große Zuwanderung nach Deutschland begann, gab es hier etwa 30.000 Juden. Viele suchten ihre Partner in Israel, in anderen Großgemeinden in Europa oder in den USA. Heute ist das nicht mehr nötig. Der Jugendkongress, viele Studentenseminare (wie etwa des Bundes traditioneller Juden) geben Jugendlichen die Möglichkeit, einen jüdischen Partner kennenzulernen. Wer suchet, der findet!

Viel entscheidender aber ist die Zukunft der Kinder in einer gemischten oder interreligiösen Ehe. Das Aufwachsen mit einer gemischten oder gespaltenen Identität ist das größte Problem, das dabei aufgeworfen wird. Ich muss aber einräumen, dass ich auch »gemischte« Familien kenne, in denen der nichtjüdische Partner (unabhängig vom Geschlecht) sehr viel tut, damit seine Kinder jüdische Identität leben und erleben können. So sehr, dass dieses Engagement oft größer ist als bei jüdischen Paaren – zu meinem Bedauern!

Manche denken, man kann alles haben: Ramadan und Jom Kippur, Ostern und Pessach. Dass beide Partner einer der drei monotheistischen oder abrahamitischen Religionen angehören, ist oft ein »Beruhigungsmittel«. Vor der Hochzeit sind viele begeistert und hoffnungsvoll, dass auch die religiöse Erziehung der Kinder so funktionieren wird. Den zukünftigen Eltern sollte allerdings klar sein, dass die Kinder bei der jüdischen Oma keine Weihnachtslieder singen dürfen, weil es dann Ärger geben könnte. Und oft gibt es tatsächlich Ärger.

Vor der Barmizwa von Beni (seinen wirklichen Namen möchte ich hier nicht nennen) wusste ich nur, dass seine Mutter und seine Freunde aus dem Jugendzentrum dabei sein werden. Benis Vater ist Muslim. Vor der Hochzeit glaubte die Mutter, alles in dieser Partnerschaft würde gut laufen. Jeder bringt seine Kultur mit, man ergänzt einander. Und so war es auch – bis Beni geboren wurde.

Dann wurde seiner Mutter klar, dass sie ihren Sohn nur nach jüdischen Regeln erziehen kann, wenn der Vater nicht davon erfährt. In all den Jahren vor der Barmizwa dachte der Vater, dass Beni das Jugendzentrum der jüdischen Gemeinde besucht, weil er dabei seinen Spaß hat. Dass dort auch das Judentum gelehrt wird, damit hatte er nicht gerechnet. Mittlerweile lebt dieses Kind sein Judentum in der Gemeinde sehr stark und mit voller Überzeugung, zu Hause aber nicht. Der Vater ist verletzt, dass sein Kind nicht dem Islam folgt. Und der Unfrieden in diesem Haus wird leider immer größer.

Viele jüdische Mütter gehen anders mit einer solchen Situation um. Das Kind ist doch sowieso jüdisch, sagen sie. Was aber kann man tun, wenn der Vater nicht damit einverstanden ist, dass seine Kinder die Religionsschule oder andere Gemeindeaktivitäten besuchen? Man erlebt nicht selten, dass Kinder, die laut Halacha jüdisch sind, von ihren Vätern anders wahrgenommen werden.

Oft fordern die Väter, ihre Kinder sollen erst im Alter von 18 Jahren entscheiden, welche Religion sie lernen und annehmen möchten. Manche Paare verzichten also jahrelang auf religiöse Erziehung, nur damit die Eltern sich nicht streiten oder sich niemand benachteiligt fühlt. Es gibt auch nicht wenige Familien mit einem jüdischen Elternteil, die ihre Kinder taufen und christlich erziehen.

Letztendlich verzichten wir durch interreligiöse Ehen leider auf viele Kinder, die das Judentum überhaupt nicht mehr kennenlernen. Das jüdische Volk, das so viele Menschen in der Schoa verloren hat, verliert heute tagtäglich zahlreiche Kinder, denen das Recht auf eine eigene Identität nicht mehr zugestanden wird.

Die Schwierigkeit, die ich als Rabbiner mit der interreligiösen Ehe habe, ist nicht die Frage des Giur. Wenn jemand an einen Übertritt denkt, sind wir schon ein Stück weiter. Das ist aber oft gar nicht der Fall. Das Hauptproblem ist nicht, ob eine »gemischte« Ehe hält. Das größte Problem ist die Erziehung und die Zukunft der Kinder.

Der Autor ist Rabbiner der Jüdischen Kultusgemeinde Groß-Dortmund und Mitglied im Vorstand der Orthodoxen Rabbinerkonferenz.

CONTRA
Ich möchte die Frage zunächst erst einmal auf den Kopf stellen und behaupten: Ohne Assimilation gäbe es weder eine Vergangenheit noch eine Gegenwart und schon gar keine Zukunft des Judentums – sei es in der Diaspora oder in Israel. Das Judentum hat nie in einer Luftblase existiert, der bewusste Austausch mit der umgebenden nichtjüdischen Umgebung war entscheidender Faktor nicht nur für das Überleben, sondern auch für die Kreativität jüdischen Denkens und Lebens.

Wie könnte denn ein nicht assimiliertes Judentum überhaupt aussehen? Es würde nicht Jiddisch sprechen – eine Sprache, die von der Vertreibungsgeschichte aus dem mittelalterlichen Deutschland nach Osteuropa erzählt, eine Sprache, die hebräische Begriffe nahtlos in mittelalterliches Deutsch integriert hat. Die Männer würden auch nicht die schwarzen Mäntel und Hüte der polnischen Adligen aus dem 17. Jahrhundert tragen und den Talmud studieren, der in Aramäisch geschrieben ist, einer Sprache, die aufgrund der Interaktion mit der nichtjüdischen Umgebung das biblische Hebräisch verdrängt hat.

Ohne Assimilation gäbe es keine jüdische Philosophie, Maimonides hätte seinen More Newuchim, den Führer der Unschlüssigen, nicht geschrieben – nicht nur, weil er kein Arabisch geschrieben hätte, sondern weil er seine zentrale Frage gar nicht hätte stellen können: Wie vereinbare ich die jüdische Tradition mit aristotelischem Denken? Dass dies möglich – und wünschenswert! – sei, hat der Philosoph im 12. Jahrhundert vorausgesetzt. Und die Antwort war ein Meisterwerk jüdischen Denkens. Die Höhepunkte jüdischen Denkens sind oft unmittelbar ein Produkt der »Assimilation«.

Im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts geht es in Deutschland jedoch erstmals um Assimilation in umgekehrter Richtung: nicht mehr um Assimilation der Umgebungskultur in das Judentum hinein, sondern um eine vollständige »Assimilation« in die deutsche Kultur, die es ermöglichen sollte, volle bürgerliche Gleichberechtigung zu erlangen und endlich dem Antisemitismus zu entrinnen. Anders als in den vorangehenden Jahrhunderten war es jetzt so, dass bewusste Assimilation propagiert wurde, die zu einem Verschwinden des Judentums geführt hätte.

Dieser Prozess wurde auf brutalste Weise durch den Nationalsozialismus abgebrochen. Plötzlich wurden viele, die ihre jüdische Identität aufgegeben hatten oder für irrelevant hielten, von außen wieder als Juden definiert und als solche verfolgt und ermordet. Es ist müßig und zynisch, darüber zu spekulieren, wie das deutsche Judentum sich ohne die Schoa weiterentwickelt hätte, oder gar den assimilierten Jüdinnen und Juden selbst die Schuld an ihrer Ermordung zu geben.

Heute, in einer globalisierten und offenen Gesellschaft, in der Identitäten zum großen Teil selbst konstruiert sind, in der die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe nicht mehr selbstverständlich oder überlebensnotwendig ist, stellt sich die Frage ganz anders: Wie bewahren wir gleichzeitig unsere jüdische Identität und unsere Offenheit nach außen? Wie gestalten wir den Austausch von Ideen und die gemeinsamen Lebensbereiche so, dass es unser Judentum bereichert und stärkt?

Eine Abschottung nützt nicht nur wenig, sondern ist auch nicht wünschenswert: Menschen und Ideen begegnen sich, weder Zensur noch Ghettoisierung wird das verhindern, und das ist gut so, denn Lernen, Diskutieren bei freiem Zugang zu den Quellen der Information und Autorität ist ein wesentliches Element der jüdischen Tradition.

Mein Vertrauen in die Schönheit und Stärke unserer Tradition ist es, dass junge Menschen ohne Zwang entscheiden, weiterhin als Juden und Jüdinnen zu leben. Es ist unsere Aufgabe als Gemeinde, entsprechend attraktive Bildungsangebote zu machen und Lebensräume zu schaffen. Gelebtes Judentum und die Verwurzelung in jüdischen Werten können die Kraft entfalten, dass das Judentum auch an die nächste Generation weitergegeben wird.

Verbote und Ausgrenzungen haben eher den gegenteiligen Effekt. Es ist Tatsache, dass Juden sich auch in Nichtjuden verlieben und sich entscheiden, ein gemeinsames Leben aufzubauen. Die wenigsten von ihnen fragen den Rabbiner oder Gemeindevorstand, ob das okay sei. Sie tun es einfach.

Wir haben nur die Wahl, wie wir damit umgehen: Heißen wir die Familien in unserer Gemeinde willkommen, laden sie ein und ermöglichen ihnen einen jüdischen Lebensweg, oder weisen wir sie ab, sodass sie keine andere Wahl haben, als sich der Mehrheitsgesellschaft anzuschließen? Selbstverständlich gibt es das rabbinische Ideal eines im Rahmen der Halacha geführten jüdischen Lebens als Einzelne und als Familie, und die Fülle an Bedeutung und Freude, die das bringt, ist von außen manchmal schwer zu verstehen.

Aber für viele ist das nicht so eindeutig zu beantworten. Sie wollen, wie Gershom Scholem es formuliert hat, in »sehr verschiedenen Ausmaßen ihr Judentum, als Erbe, als Konfession, als ein Ich-weiß-nicht-was, ein undefinierbares und doch im Bewußtsein deutlich vorhandenes Element bewahren«. Es ist die Aufgabe der Rabbiner und Gemeinden, sie dabei zu unterstützen.

Die Autorin ist Rabbinerin der Jüdischen Gemeinde zu Berlin und amtiert in der Synagoge Oranienburger Straße. Sie ist Gründungsmitglied der Allgemeinen Rabbinerkonferenz.

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