Rechtsextremismus

»Die Verbindung liegt auf der Hand«

Der laute Aufschrei in der Öffentlichkeit blieb aus. Paul Spiegel hat sich als Präsident des Zentralrats der Juden noch 20 Jahre später darüber gewundert, wie ein derart einschneidendes Ereignis in der Öffentlichkeit derart untergehen konnte. Rabbiner Shlomo Lewin, Verleger, über Jahre hinweg auch Vorsitzender der Israelitischen Kultusgemeinde Nürnberg, ein stetiger Vermittler zwischen Deutschen und Juden, war zusammen mit seiner Lebensgefährtin Frida Poeschke in seinem Haus in Erlangen ermordet worden. Ein gezielter Anschlag auf einen jüdischen Würdenträger, das hatte es seit dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland nicht gegeben.

Mehr oder weniger deutlich wird seither an den Anschlag vom 19. Dezember 1980 erinnert: mit einem unkommentierten Namensschild für einen kleinen Park, mit der Absicht der Stadtverwaltung, eine Straße nach den beiden Mordopfern zu benennen, und regelmäßigen Gedenkstunden im Dezember. Am vergangenen Sonntag nahm daran auch der bayerische Innenminister Joachim Herrmann teil. Er lebt in Erlangen, er kennt die Details – und er sträubt sich auch nicht dagegen, wie er gerade wieder erklärte, wenn neue Erkenntnisse neue Ermittlungen notwendig machten.

Ist etwa nicht alles klar? Täter bekannt, Tatablauf bekannt, Motivlage bekannt: Das ist aus den Tausenden Seiten an Ermittlungsakten, Protokollen, Beweismitteln und Urteilen herauszulesen. Doch was so eindeutig aussieht, ist es nicht.

wehrsportgruppe Shlomo Lewin ist in den Monaten vor seinem Tod ein viel beschäftigter Mann. Einen großen Teil seiner Arbeitszeit widmet er seinem Herzenswunsch, in Erlangen, seinem Wohnort, die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) zu etablieren. Den Schritt, der für ihn auch einen Meilenstein auf dem Weg zur Aussöhnung von Deutschen und Juden darstellt, bereitet er akribisch, ruhig und pragmatisch vor.

Emotional macht ihm dagegen die »Wehrsportgruppe Hoffmann« zu schaffen, die nur ein paar Kilometer entfernt ihr »Hauptquartier« hat und langsam zur größten Organisation mit neonazistischer Ausrichtung in Deutschland herangewachsen ist. Seit Jahren ist ihm die Rechtsextremistentruppe ein Dorn im Auge. Mit dem Anführer, Karl-Heinz Hoffmann, verbindet ihn eine innige Feindschaft, auch öffentlich. Doch Morddrohungen, die schriftlich und telefonisch bei Shlomo Lewin eingehen, können dem Streit nicht zugeordnet werden, weil der Absender unbekannt bleibt.

franz josef strauss In der fränkischen Provinz vor den Toren Nürnbergs werden Karl-Heinz Hoffmann und seine bis zu 500 Mitglieder starke Truppe, die in den Waldgebieten mit paramilitärischen Übungen den Kriegsfall proben, eher als stramme Deutsche denn als rechtsextreme Gefahr wahrgenommen. Widerspruch gegen seine markigen Sprüche von angeblicher Überfremdung und einer linksradikalen Politik der Bundesregierung, die Karl-Heinz Hoffmann in bezahlten Vortragsveranstaltungen, im Dorfwirtshaus und in seiner Hauszeitschrift »Kommando« zum Besten gibt, stoßen in den 70er-Jahren, die vom Terror der Roten Armee Fraktion geprägt sind, kaum auf öffentliche Kritik.

Den Maßstab, der sich von der Einschätzung am Stammtisch des Dorfwirtshauses nicht wesentlich unterschied, hatte Bayerns Ministerpräsident und politischer Übervater Franz Josef Strauß in einer Landtagsdebatte festgelegt, als die Opposition die rechten Umtriebe auf die Tagesordnung gebracht hatte. »Machen Sie sich doch nicht lächerlich«, polterte er, »wenn Sie gewissen Gruppierungen – Sie haben heute die Wehrsportgruppe Hoffmann genannt – eine Bedeutung zumessen, die sie nie hatten, nie haben und in Bayern nie bekommen werden.«

Verbot Für Karl-Heinz Hoffmann begann wenige Monate später, im Januar 1980, trotzdem kein erfolgreiches Jahr. Bundesinnenminister Gerhart Baum lag mehr auf der Linie, die auch Shlomo Lewin verfolgte, und sprach wegen ihrer Verfassungswidrigkeit ein Verbot der Wehrsportgruppe Hoffmann aus. Auch dafür hatte der CSU-Chef nur Spott übrig. Man solle Hoffmann »in Ruhe lassen« und nicht dabei stören, »wenn er sich vergnügen will, indem er am Sonntag auf dem Land mit einem Rucksack und einem mit Koppel geschlossenen ›battledress‹ spazieren geht«.

An der These, dass die Gefahr für den Rechtsstaat von Links komme, hielt Franz Josef Strauß auch noch am Abend des 26. September 1980 fest. Gut eine Woche später wollte er nach einem polarisierenden Wahlkampf unter dem Motto »Freiheit statt Sozialismus« Kanzler werden. Doch jetzt stand der politische Hardliner kurz vor Mitternacht am Eingang des Münchner Oktoberfestes, wo eine Bombe ein Massaker unter den Besuchern der »Wiesn« angerichtet hatte: 13 Tote, 211 Verletzte.

Strauß suchte vor laufenden Kameras nach den Schuldigen: Innenminister Gerhart Baum von der FDP, sein politischer Erzfeind, geriet ihm ins Visier. Dessen liberale Politik sei für den Anschlag mitverantwortlich, Zweifel an Linksterroristen als Urhebern des Attentats hatte der Kanzlerkandidat Strauß nicht.

ermittlungen Jetzt, mehr als drei Jahrzehnte später, ermittelt der Generalbundesanwalt erneut, um mehr Licht in die Hintergründe des Oktoberfest-Attentats zu bringen. Zweifel am Ergebnis der Ermittlungen, wonach der selbst ums Leben gekommene Bombenleger, der Geologiestudent Gundolf Köhler, als Alleintäter den Anschlag geplant und durchgezogen hatte, gab es von Anfang an.

Ein Skeptiker ist auch der Münchner Anwalt Werner Dietrich, der Opfer und Angehörige vertritt, selbst jahrelange Recherchen anstellte und jüngst mit einem exzellent ausgearbeiteten Antrag die Wiederaufnahme der Ermittlungen erreichte. Seine Überzeugung, die sich auf bisher unbekannte Zeugen und Akten bezieht, steht unumstößlich fest: »Gundolf Köhler war kein Einzeltäter. Es gab Drahtzieher, Helfer bei der Tatausführung und Mitwisser im Hintergrund.«

Einen Tag nach dem Oktoberfest-Attentat musste auch Franz Josef Strauß zurückrudern. Gundolf Köhler, der als Bombenleger identifiziert worden war, war in die Strukturen der Neonaziszene fest eingebunden. Unter anderem wurde bei ihm ein Ausweis gefunden, der ihn als Mitglied der Wehrsportgruppe Hoffmann auswies.

Karl-Heinz Hoffmann, gegen den wegen einer möglichen Tatbeteiligung Ermittlungen eingeleitet und wieder eingestellt wurden, wird nicht müde, die Beziehung zum Bombenleger von München herunterzuspielen. Lediglich zwei oder drei Mal habe Köhler an den Wehrsportübungen teilgenommen und ihm zum Geburtstag zwei Flaschen Wein geschickt. Dass er, Hoffmann, irgendetwas mit dem Anschlag zu tun habe, sei »völliger Schwachsinn«. Auf seiner Website untermauert er das mit der Veröffentlichung der Einstellungsverfügung der Staatsanwaltschaft.

leWin-poeschke Am 19. Dezember 1980, drei Monate nach dem Terrorakt, gerät der Führer der Wehrsportgruppe, die nach dem Verbot ihre militärischen Übungen in ein Ausbildungslager der Fatah in den Libanon verlegt hat, in seinem Wohnsitz im oberfränkischen Schloss Ermreuth in Rage. Er rechnet jeden Augenblick mit dem Auftauchen der Polizei, nachdem ihm Uwe Behrendt, sein Stellvertreter und die »rechte Hand« in der Wehrsportgruppe, gerade gestanden hat, Shlomo Lewin und Frida Poeschke ermordet zu haben. »Chef, ich habe es auch für dich getan«, soll der Todesschütze nach Darstellung Hoffmanns damals erzählt haben.

Die Wut Hoffmanns und seine Befürchtungen, wieder ins Visier der Behörden zu geraten, resultieren allerdings aus einem anderen Umstand. Behrendt muss zugeben, dass er am Tatort eine Sonnenbrille zurückgelassen hat, die Hoffmanns Freundin gehört, ein Unikat, mit dem eingravierten Namen des Optikers und der Kundennummer 127 versehen. Die Adresse des Optikers ist das Nachbarhaus, in dem Karl-Heinz Hoffmann jahrelang gelebt hat – eine leicht zu verfolgende Spur. Doch es dauert geschlagene fünf Wochen, bis Kripobeamte tatsächlich bei ihm auftauchen.

In Gerichtsakten ist nachzulesen, dass Hoffmann zu diesem Zeitpunkt bereits ganze Arbeit geleistet hatte. Seinen Angaben zufolge wurde die Kleidung, die Behrendt bei dem Mord an Lewin und Poeschke getragen hatte, sofort im Kachelofen der Schlossküche verbrannt; die Tatwaffe, einschließlich eines Schalldämpfers, den Hoffmann kurz zuvor in seinem Keller gebastelt hatte, habe er in einem Fluss entsorgt. Auch der Todesschütze selbst war nicht greifbar. Hoffmann räumte ein, dass er ihm nach dem Doppelmord zur Flucht in den Libanon verholfen habe.

freispruch Die Indizien, mit denen die Mordanklage gegen Karl-Heinz Hoffmann und seine Lebensgefährtin begründet wurden, reichten dem Nürnberger Schwurgericht zu einer Verurteilung nicht aus. Beide wurden freigesprochen und Uwe Behrendt als autark handelnder Täter dargestellt. Selbst befragt werden konnte der allerdings nicht mehr: Bevor es den deutschen Ermittlungsbehörden gelang, bürokratische Hemmnisse aus den Weg zu räumen und im Libanon zu ermitteln, war Uwe Behrendt tot. Selbstmord, heißt es amtlich, sei die Todesursache.

Rechtsanwalt Werner Dietrich, der schon seit vielen Jahren bemängelt, dass die Rolle der Wehrsportgruppe nicht intensiv genug erforscht worden sei, kann sich auch mit Blick auf den Mord an Shlomo Lewin und Frida Poeschke eine gewisse Ironie nicht verkneifen: »Das sind mir in dem Fall ein bisschen zu viele Einzeltäter.« Ähnlich sieht es auch die aus Erlangen stammende Landtagsabgeordnete Alexandra Hiersemann, die ebenfalls neue Ermittlungen fordert: »Die Verbindungen zwischen dem Erlanger Doppelmord und dem Oktoberfest-Attentat liegen auf der Hand.«

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