Lyrik

Die tanzende Philosophin

»Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, nicht von den Philosophen«: Hannah Arendt (1906–1975) Foto: ullstein

Der erste Eindruck ist: Hannah Arendt und Lyrik – passt das wirklich zusammen? Und vor allem: Stimmt es überhaupt, dass die berühmte Theoretikerin parallel zu ihren politischen Schriften jahrzehntelang auch Gedichte schrieb?

Doch beides trifft zu. Was bisher nur Kenner ihres Werkes wussten, wird nun mit dem am 9. November erscheinenden Band mit allen Gedichten Hannah Arendts auch einer breiten Öffentlichkeit bekannt: Die Philosophin und Professorin für Politische Theorie, die Verfasserin des Jahrhundertbuchs Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft und des immer wieder diskutierten Berichts Eichmann in Jerusalem mit dem anthropologischen Verdikt der »Banalität des Bösen«, die Schülerin und Geliebte Heideggers, die bei Jaspers in Heidelberg promoviert hatte, ja: Diese Hannah Arendt hat auch – ebenso sprachlich betörende wie von Ironie getragene – Lyrik verfasst.

wechselvoll In Ich selbst, auch ich tanze werden sämtliche 71 Stücke ihrer Poesie in einer mustergültigen Edition veröffentlicht – darunter auch acht bislang unbekannte Werke. Und so viel sei vorab gesagt: Der Zivilisationsbruch durch die Schoa teilt auch das lyrische Werk Arendts. In einem lesenswerten Essay, der dem Band vorangestellt ist, geht Irmela von der Lühe auf diesen Umstand sowie auf die wechselvolle Biografie der Denkerin ein.

Die 1906 in Hannover geborene wirkungsmächtige Philosophin hatte zeitlebens großen Respekt vor der Lyrik: »Nur von den Dichtern erwarten wir Wahrheit, nicht von den Philosophen, von denen wir Gedachtes erwarten«, schrieb sie Mitte der 50er-Jahre in ihr immer noch Staunen und Respekt auslösendes Denktagebuch. Eine Wahrheit, die die Lyrik über die Zeiten hinweg befähigt, »Gedächtnis zu stiften«, wie sie in ihrem letzten großen Werk Vita activa oder Vom tätigen Leben 1958 formulierte.

Arendts eigenes poetisches Œuvre ist überschaubar, vielleicht gar nicht zur Veröffentlichung bestimmt gewesen und in jedem Fall zweigeteilt: 21 Gedichte hat sie zwischen 1923 und 1926 geschrieben, in denen ihre Beziehung zu Martin Heidegger in Marburg eine große Rolle spielt. Die übrigen 50 Gedichte sind in der Zeit zwischen 1942 und 1961 entstanden, also erst, als sie auf ihrer Flucht vor den Nazis über Paris in die USA gelangt war, wo sie am 4. Dezember 1975 verstarb.

Emigration Das erste Gedicht nach dem langen lyrischen Schweigen ist mit »W.B.« überschrieben und Walter Benjamin gewidmet, mit dem sie in den 30er-Jahren in der Pariser Emigration befreundet war. Es endet mit der Strophe: »Ferne Stimmen, naher Kummer –:/Jene Stimmen jener Toten,/Die wir vorgeschickt als Boten/Uns zu leiten in den Schlummer.«

Am selben Tag wie dieses Trauergedicht, verfasst 1942, schrieb Arendt die kämpferischeren Verse, die sich auf Deutschland beziehen: »Recht und Freiheit/Brüder zagt nicht/Vor uns scheint das Morgenrot./Recht und Freiheit/Brüder Wagt es/Morgen schlagen wir den Teufel tot.« Wenige Verse weiter folgen die Zeilen: »Recht und Freiheit/Brüder fragt nicht/Wir nun sind das Weltgericht.« Die Verse stehen pars pro toto für ihr Werk, sie »stiften Gedächtnis« und singen eine andere Wahrheit, zu der die um »Verstehen« ringende Philosophin nicht über nur »Gedachtes« gelangen könnte.

Ein weiteres, bisher nicht veröffentlichtes Gedicht von 1946 fängt mit der Zeile an: »Ich weiss, dass die Strassen zerstört sind«. Es ist dies ein großes Verdienst der Edition, dass sie die damals wie heute unorthodoxe Schreibweise der Autorin beibehalten hat. Respekt vor dem Schöpfungsakt gewissermaßen, der – außer wenn ein Gedicht einem Brief beigefügt ist – kein Publikum heischt.

goethe Welcher Ton herrscht in ihren Gedichten, den man kennt, an den man sich anlehnt? Eher wohl der von Goethe als der von Heine. Manchmal auch der von Morgenstern wie in diesem Erstdruck: »Ich bin ja nur ein kleiner Punkt/nicht größer als der schwarze/der dort auf dem Papiere prunkt/ als Anfang zum Quadrate«. Doch auch dieses Gedicht ist keine Fingerübung in Kleinkunst! Hier kann man die Zeichenschule des Malers Paul Klee, der wie Arendt zur Emigration gezwungen war, assoziieren, die Demut des »nicht mal gut Geratenen« lesen, den Witz und schönen Rhythmus genießen und der mit der Hand dichtenden Arendt beim Klecksen zusehen.

Wie sehr die Belles Lettres und das Nachdenken bei ihr zusammengehörten, erkennt man daran, dass viele der Gedichte neben Philosophischem und Politischem stehen. In ihrem Werk Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft etwa »nutzt sie Joseph Conrads literarischen Afrika-Bericht Herz der Finsternis (1902), um die Expansionspolitik des imperialistischen Zeitalters zu verstehen«, schreibt Irmela von der Lühe in ihrem den Gedichten beigegebenen Kommentar und zitiert dann Hannah Arendt selbst: »Denn wer das Entsetzen über den imperialistischen Rassenwahn begreifen will, dem hilft weder Völkerkunde noch überhaupt die Wissenschaft.«

Diese erste Gesamtausgabe der Gedichte von Hannah Arendt ist ein würdiger Abschluss zu dem großen Bogen ihres Werkes, das neu und immer wieder zu lesen sich lohnt. Der Titel dieses kleinen Bandes ist einem Gedicht aus jungen Jahren (Winter 1923) entnommen, in dem es unter anderem heißt: »Ich selbst/Auch ich tanze,/befreit von der Schwere/Ins Dunkle ins Leere. (...) Ich selbst,/auch ich tanze./Ironisch vermessen,/Ich hab nichts vergessen,/Ich kenne die Leere,/Ich kenne die Schwere,/Ich tanze, ich tanze/In ironischem Glanze«.

Hannah Arendt: »Ich selbst, auch ich tanze«. Piper, München 2015, 160 S., 20 €

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