Hitler und der Großmufti

»Einig in der ›Judenfrage‹«

Herr Cüppers, in seiner Rede vor dem Zionistischen Weltkongress hat Israels Premier Benjamin Netanjahu behauptet, der damalige Großmufti von Jerusalem, Amin al-Husseini, habe Adolf Hitler zum Holocaust angestiftet, nachdem dieser die Juden lediglich vertreiben wollte. Was ist aus historischer Sicht von dieser Äußerung zu halten?
Der Kern der Äußerung Netanjahus, dass Amin al-Husseini Hitler – gemeint ist wohl anlässlich des Treffens in der Reichskanzlei am 28. November 1941 – erst auf den Gedanken zur Ermordung der europäischen Juden gebracht habe, ist historisch natürlich nicht haltbar. Wir wissen, dass die Nazis zu dieser Zeit längst entscheidende Weichenstellungen zum Holocaust in der Sowjetunion und im besetzten Polen realisiert hatten. Zu dieser Zeit gingen Einladungen zur Wannseekonferenz heraus, die nur wegen der sowjetischen Gegenoffensive vor Moskau und der Kriegserklärung des Deutschen Reiches an die Vereinigten Staaten auf den 20. Januar 1942 verschoben wurde. Damals waren bereits mehrere 100.000 Juden in der deutsch besetzten Sowjetunion erschossen worden, erste Gaswagen waren auf dem Weg zu ihren Einsatzorten, und das Vernichtungslager Belzec in Ostpolen befand sich im Bau. Es ist völlig unzweifelhaft, dass Hitler von al-Husseini nicht zum Holocaust ermuntert werden musste. Letztlich verweist Netanjahu aber auf einen wichtigen Zusammenhang, nämlich das enge Verhältnis zwischen den Arabern Palästinas, mit Amin al-Husseini als unbestrittenem Führer, und den Nazis. Das Treffen 1941 macht deutlich, dass beide Seiten sich in der Beurteilung der »Judenfrage« vollkommen einig waren.

Wie kam es überhaupt zum Treffen zwischen al-Husseini und den Nazis?
Es gab schon lange vor dem Treffen vielfältige Kontakte. Amin al-Husseini hatte seit dem Ende des Osmanischen Reichs das gegen die britische Mandatsmacht gerichtete »Nation building« der Palästinenser mit judenfeindlicher Ideologie und Hetze gegen die damals kleine jüdische Minderheit des Jischuw verbunden. Gleich nach dem Ersten Weltkrieg war er für Pogrome in Jerusalem und anderen Städten verantwortlich. Trotzdem setzen ihn die Briten – eine fatale Entscheidung – als Mufti ein. Die gleichen Bedingungen, die heute zu den Messerattacken führen, hat es auch in den 20er- und 30er-Jahren immer wieder gegeben. 1929 basierte etwa das Pogrom an der jahrhundertealten jüdischen Gemeinde von Hebron auf ähnlichen Gerüchten wie heute: dass nämlich die Juden in Jerusalem einen stärkeren Einfluss auf den Bezirk um die Al-Aqsa-Moschee und die Klagemauer erreichen wollten. Dieser radikale Antisemitismus ist von den Nazis natürlich aufmerksam registriert worden.

Wann genau gab es den ersten Kontakt?
Der erste Kontakt ist für den März 1933 überliefert. Da meldet der deutsche Generalkonsul aus Jerusalem, dass ihm al-Husseini seine Aufwartung gemacht, sich euphorisch über die gerade an die Macht gekommenen Nazis geäußert und ausdrücklich seiner Hoffnung Ausdruck verliehen habe, dass die Nazis ihre Macht weiter ausdehnen und wichtige Bündnispartner der Araber auch in Palästina werden mögen. Al-Husseini hat also bei erstbester Gelegenheit die Nähe zu den Nazis gesucht.

Wie haben diese auf die Avancen reagiert?
Die Nationalsozialisten sind in den frühen 30er-Jahren zunächst zurückhaltend. Es gibt innen- und außenpolitische Gründe, die gegen ein Bündnis mit den Arabern sprechen. Hitler will erst einmal keinen Konflikt mit dem britischen Empire wagen. Priorität hat die Wiederaufrüstung, und die soll nicht aufs Spiel gesetzt werden, indem England im Nahen Osten durch ein Bündnis Nazis–Araber verärgert würde. Zweitens setzte die NS-Judenpolitik bis zum Beginn des Weltkriegs bekanntlich erst einmal auf die Vertreibung der Juden aus dem Deutschen Reich. Das heißt, zum Teil eben auch nach Palästina. In den Akten des Auswärtigen Amtes kann man Ende der 30er-Jahre den Prioritätenwechsel ablesen. Deutsche Diplomaten im Nahen Osten melden immer wieder nach Berlin, dass Araber in Palästina äußerst verärgert darüber sind, dass Juden aus Deutschland ins Land kommen. Diese Kritik wird ernst genommen, und die NS-Führung setzt mit Beginn des Weltkriegs auf das Bündnis mit den Arabern, das mittlerweile politisch opportun erscheint, da frühere Bedenken mittlerweile obsolet geworden waren.

Wissen wir, was bei dem berüchtigten Treffen 1941 genau besprochen wurde?
Es gibt zwei überlieferte Protokolle von Diplomaten des Auswärtigen Amtes, die recht detailliert sind und in hohem Maße übereinstimmen. Diesen Protokollen kann man entnehmen, dass Hitler al-Husseini Andeutungen machte, dass er in Europa gerade dabei sei, das »internationale Judentum« in Gestalt des Bolschewismus und der Briten zu vernichten, und dass er perspektivisch weitere Länder Europas auffordern werde, die »Judenfrage« in diesem Sinne zu lösen. Wenn die Zeit gekommen sei, müsse im arabischen Raum ähnlich vorgegangen werden. Hitler machte außerdem deutlich, dass das Deutsche Reich keinerlei machtpolitische Ambitionen im Nahen Osten habe. Sobald deutsche Truppen im arabischen Raum angekommen wären, solle lediglich die »Endlösung der Judenfrage« verwirklicht werden, was die Vernichtung der Juden bedeutete, die dort unter britischem Einfluss lebten. Nicht zuletzt versprach Hitler dem Mufti, dass dieser dann der ausgewiesene Führer der Araber in der Großregion sein würde.

Entsprach das den Erwartungen des Muftis?
Das Anliegen al-Husseinis war, von Hitler eine Zusage zu bekommen, dass die Nationalsozialisten die arabische Nationalbewegung militärisch unterstützen. Davon versprach sich al-Husseini eine größere Anhängerschaft, das sollte ihm Autorität verleihen. Letztlich sagte Hitler ihm das auch vertraulich zu, offiziell werden würde das aber erst, wenn deutsche Truppen die Südhänge des Kaukasus erreicht hätten und somit die angesprochene militärische Frage virulent werden würde.

Hatte das Gespräch praktische Folgen, was die Zusammenarbeit betraf?
Beide hatten ihre gemeinsame radikale Haltung gegenüber den Juden, dem britischen Einfluss und dem Bolschewismus betont. Praktisch wurde das im Sommer 1942, als Rommel sich mit seiner Panzerarmee Afrika aufmachte, ganz Ägypten zu erobern, und anschließend ein Übersetzen über den Suezkanal und das Erreichen Palästinas geplant war. Dafür hatten die Nazis schon Pläne entwickelt. Unter anderem wurde ein SS-Kommando aufgestellt, das unter der Führung des schon berüchtigten Judenmörders Walther Rauff den Holocaust auch in den Nahen Osten exportieren sollte.

Wie signifikant war die Rolle, die der Großmufti im Holocaust spielte?
Die Pläne für eine Eroberung des Nahen Ostens durch die Nazis sind letztlich gescheitert, weil das Ostheer am Kaukasus zurückgedrängt wurde und Rommel vor El-Alamein von der britischen 8. Armee zurückgeschlagen werden konnte. Die Pläne, dass al-Husseini als arabischer Führer von Hitlers Gnaden ein großsyrisches Reich errichten und ihm vorstehen sollte, waren damit Makulatur. Der Mufti war aber ein populärer Agitator im deutschen Mittelwellensender Radio Berlin, der täglich arabischsprachige Programme in die Großregion sandte. Dort rief al-Husseini immer wieder zum Heiligen Krieg gegen Juden und Briten auf. Er traf sich mit Adolf Eichmann und konnte ihm offenbar schon mitteilen, dass Himmler ihm die Entsendung eines »Judenberaters« nach Jerusalem zugesagt hatte. Judenberater waren jene Mitarbeiter des Reichssicherheitshauptamtes, die für die Erfassung und spätere Deportation jüdischer Gemeinden in den europäischen Ländern sorgten. Nicht zuletzt war al-Husseini Ziehvater von zwei SS-Divisionen, die mit teils muslimischen Rekruten auf dem Balkan aufgestellt wurden.

Ideologisch hat dieses Bündnis also schon Folgen gehabt?
Absolut. Das Bündnis zwischen den Nazis und der palästinensischen Nationalbewegung unter al-Husseini hat große Wirkung entfaltet. Husseini war deswegen und trotzdem auch nach dem Zweiten Weltkrieg in Palästina unbestrittener Führer. Er hatte an der Spitze seines einflussreichen Clans nach 1945 die Macht beibehalten. Im Nahen Osten hat eben 1945 nie ein ideologischer Bruch stattgefunden. Nach seiner Flucht aus französischem Gewahrsam nach Ägypten wurde al-Husseini von der arabischen Liga sofort anerkannt. Das Oberste Arabische Komitee der wichtigsten politischen Parteien Palästinas wurde unter seinem Vorsitz wiedererrichtet. Al-Husseini beteiligte sich mit Freiwilligenverbänden am Krieg gegen das gerade gegründete Israel und ließ bis in die 60er-Jahre keine Gelegenheit aus, seine antisemitischen Hetztiraden in die Welt zu verbreiten. Das alles ist vom Westen nie wirklich zur Kenntnis genommen worden.

Hat Netanjahu also nur unglücklich formuliert, was tatsächlich auf eine Leerstelle im historischen Bewusstsein hinweist?
In der Tat wird dieser historische Zusammenhang viel zu wenig zur Kenntnis genommen. Neben seiner verfehlten Bemerkung zu Hitler und dem Holocaust hat Netanjahu auf den blinden Fleck in der Wahrnehmung des Westens hingewiesen: die Tradition des Ablehnens einer politischen Lösung auf palästinensischer Seite, die sich durch die vergangenen 100 Jahre Nahostgeschichte zieht und historisch eben auch auf dem Bündnis der Palästinenser mit den Nazis beruht. So lange diese Weigerung im Westen akzeptiert wird, kann es in der Region keine Wendung zum Besseren geben.

Martin Cüppers ist Historiker an der Forschungsstelle Ludwigsburg und der Universität Stuttgart. 2006 erschien von ihm die Monografie (mit Klaus M. Mallmann): »Halbmond und Hakenkreuz. Das ›Dritte Reich‹, die Araber und Palästina« (Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt. 288 S., 19 €).

Das Gespräch führte Ingo Way.

Bonn

Beethoven-Haus zeigt Ausstellung zu Leonard Bernstein

Die lebenslange Beschäftigung des Ausnahmetalents mit Beethoven wird dokumentiert

 25.04.2024

Potsdam

Chronist der neuen Weiblichkeit

Das Museum Barberini zeigt Modiglianis Menschenbilder in neuem Licht

von Sigrid Hoff  25.04.2024

München

Ausstellung zeigt Münchner Juden im Porträt

Bilder von Franz von Lenbach und anderen sind zu sehen

 25.04.2024

Wien

Spätwerk von Gustav Klimt für 30 Millionen Euro versteigert

Der Künstler malte das »Bildnis Fräulein Lieser« kurz vor seinem Tod

 25.04.2024

Los Angeles

Barbra Streisand: Lovesong als Zeichen gegen Antisemitismus

Für die Serie »The Tattooist of Auschwitz« singt sie das Lied »Love Will Survive«

 25.04.2024

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024