Melodram

Vereinzelt Glück

Lena Gorelik erzählt eine tragische Liebesgeschichte

von Roland Kaufhold  12.10.2015 18:21 Uhr

Foto: rowohlt berlin

Lena Gorelik erzählt eine tragische Liebesgeschichte

von Roland Kaufhold  12.10.2015 18:21 Uhr

Als Sanela und Nils Liebe Kinder waren, mochten sie sich sehr. Sanela kam eines Tages, 1992, in seine Klasse, seine Lehrerin bat ihn, sich um das neue Mädchen zu kümmern. Sie sei aus Jugoslawien, habe keine Eltern mehr. Sanela lernt rasch, sie möchte mit ihrer neuen Umwelt vertraut werden: »Sie saugte die Sprache auf. Sie lauschte ihr wie später der Musik. Den Klang der Worte nahm sie mit dem ganzen Körper auf.«

Die Lehrerin möchte in pädagogischer Absicht mehr über den Jugoslawienkrieg erfahren, Sanela soll ihrer Klasse über den Krieg erzählen. Nils Liebe spürt ihre Überforderung. »In seinem Kopf dreht sich alles. Scham. Machtlosigkeit. Begreifen.« Er verspürt eine Faszination für dieses Mädchen, aber auch eine innere Unsicherheit. »Das Mädchen war ihm fremd auf eine verstörend vertraute Weise. Es sprach nicht. Es lächelte nicht.«

flüchtlingsströme Lena Gorelik erzählt in Null bis unendlich eine schwierige Geschichte, die doch eigentlich eine Liebesgeschichte zu werden versprach. Zugleich ist es, angesichts der wachsenden Flüchtlingsströme, eine sehr aktuelle Thematik, die ohne jegliche Idealisierung entworfen wird. Sanela wird von schmerzhaften Erinnerungen an Abschiede überrollt, die sie vollständig überfordern. Insbesondere die Erinnerung an ihren Vater, er starb im Krieg, sowie an ihre an Krebs verstorbene Mutter vermag sie nicht zu ertragen: »Sanela kniff für ein paar Sekunden die Augen zusammen und schaltete die Erinnerung aus. Sie übte. Erinnerungen, Gedanken in abschließbare Schubladen sperren, Menschen nicht brauchen.«

Nils Liebe ist in einigen Bereichen hochbegabt, ein Zahlenkünstler. Und doch ist er emotional bedürftig. Als die beiden 14 Jahre alt sind, brechen sie zu einer abenteuerlichen Reise nach Jugoslawien auf, um das Grab ihres Vaters zu finden. Eine zutiefst verstörende Reise. Erholt hat sich Sanela davon wohl nie. »›Wenn man alle sterben sieht, dann will man auch sterben‹, sagt Sanela.«

wiedersehen Kurz darauf entschwindet sie. »Der Platz neben ihm in der Schule blieb leer.« Zur Liebe hat es nicht gereicht. Für Nils Liebe bleibt ein Loch, ein tiefes inneres Grübeln und Ersehnen. Sie hören nichts mehr voneinander, 15 Jahre lang. Nach dem Abitur geht Nils Liebe nach Berlin zum Studium. Dann ein überraschendes Wiedersehen. Zuerst erhält er einen Brief von Sanela. Diesen bewahrt er in einem Tresor auf, so bedeutsam ist er für ihn.

Zugleich ist dieses Wiedertreffen jedoch der Beginn eines beide überfordernden Dramas, in welches auch Sanelas kleiner Sohn Niels-Tito, den sie inzwischen hat, mit hineingezogen wird. Ihre Beziehung driftet immer mehr in Missverständnisse, in eine Kommunikationslosigkeit hinein. Sanela, das Waisen- und Flüchtlingskind, entwickelt eine beachtliche Fähigkeit zur Selbstzerstörung, gegen die Nils Liebe nicht ankommt. Kein leichter Stoff.

Lena Gorelik: »Null bis unendlich«. Roman. Rowohlt, Berlin 2015, 304 S., 19,95 €

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024