Porträt der Woche

Der Barmizwa-Lehrer

Shlomo Tichauer ist Ingenieur und seit 50 Jahren in der Berliner Gemeinde aktiv

von Alice Lanzke  10.08.2015 17:37 Uhr

»Meine Liebe zu den Traditionen verdanke ich meinen Eltern und Lehrern in Israel«: Shlomo Tichauer (79) Foto: Stephan Pramme

Shlomo Tichauer ist Ingenieur und seit 50 Jahren in der Berliner Gemeinde aktiv

von Alice Lanzke  10.08.2015 17:37 Uhr

Dass ich 1957 zum Studium nach Berlin gekommen bin, war eigentlich nicht meine Entscheidung: Ich wollte Maschinenbau in Paris studieren, um später in der Werkstatt meines Vaters in Israel zu arbeiten. Doch während ich schon in Paris war, besuchten meine Eltern Berlin – und mein Vater meldete mich ohne mein Wissen an der Technischen Universität an, denn hier musste ich keine Studiengebühren zahlen. Ich sollte sofort nachreisen und, folgsamer Sohn, der ich war, setzte mich in den Zug.

Ich selbst hätte mich wohl für ein humanistisches Fach entschieden. Doch mein Vater war ein sehr praktisch denkender Mensch: Einerseits sollte ich mit dieser Ausbildung eines Tages sein Geschäft übernehmen, zum anderen konnte ich als Ingenieur überall arbeiten. Seine praktische Natur hatte ihren Ursprung wahrscheinlich darin, dass er das achte Kind seiner Familie war. Sie stammte ursprünglich aus Polen, wie auch die Familie meiner Mutter. Die Familien lebten in Deutschland. 1933 wanderte mein Vater ins damalige Palästina aus, meine Mutter folgte ihm wenige Monate später. Als Handwerker konnte sich mein Vater dort schnell selbstständig machen.

jugend Aber es war eine harte Zeit für meine Eltern: nicht nur wirtschaftlich, auch emotional, da der Rest ihrer Familien in Europa geblieben war. Zudem beherrschten sie die Sprache in der neuen Heimat nicht. Dennoch verlebten meine Schwester und ich eine glückliche Kindheit als deutsche Juden in Israel.

In der Schule bekam ich ein starkes jüdisches Selbstbewusstsein vermittelt, das mich mein ganzes Leben lang begleitet hat. Ich bin sehr glücklich, in Israel geboren zu sein. Ich hatte dort fantastische Lehrer. Sie waren Erzieher im ursprünglichsten Sinne, die eine neue jüdische gesunde Jugend heranwachsen lassen wollten – gerade angesichts des Schicksals der Juden in Europa. Meine Liebe zu den Traditionen habe ich diesen Lehrern und meinen Eltern zu verdanken.

Das Studium in Berlin fiel mir anfangs schwer: Ich hatte in Israel ein humanistisches Gymnasium besucht. Mathematik und Naturwissenschaften waren nicht gerade meine Stärke. Aber ein guter Freund half mir sehr, ebenso meine Mutter, die mich besuchen kam, um mich zu unterstützen.

Ich wurde schließlich immer besser und schloss das Studium 1966 ab. Danach arbeitete ich als planender Ingenieur in Berlin. Parallel dazu begann ich, als Lehrer an einer technischen Abendschule zu unterrichten. Das machte mir großen Spaß – ich hatte einen guten Draht zu den jungen Leuten.

synagoge Einer meiner ersten Wege in Berlin führte mich in die Synagoge Pestalozzistraße. Ich war begeistert vom Gottesdienst, dem liberalen Ritus und von Estrongo Nachama, mit dem ich mich bis zu seinem Tod sehr gut verstand.

Ein wenig plagte mich immer ein schlechtes Gewissen, dass ich als Israeli nach Deutschland gezogen war, deswegen wollte ich auch hier etwas für mein Land tun. Als eine Lehrerin der Gemeinde überraschend schwanger wurde, übernahm ich 1962 den Religionsunterricht von ihr. Kurz danach starb der Barmizwa-Lehrer.

Heinz Galinski, der damalige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, rief mich an und sagte: »Ab morgen machst du das.« Das tat ich.

In den 40 Jahren, die ich als Barmizwa-Lehrer für die Gemeinde gearbeitet habe, unterrichtete ich mehr als 500 Schüler und machte auch noch privat weiter, als ich nicht mehr bei der Gemeinde angestellt war. Diese beiden Tätigkeiten als Religions- und Barmizwa-Lehrer haben mir eine große Befriedigung gegeben – viel mehr als mein Ingenieursberuf.

vorbild Aber auch in diesem hatte ich großes Glück: 1970 wurde ich als Hochschullehrer an die damalige Ingenieursschule berufen, die später in die Technische Fachhochschule integriert wurde. Zudem arbeitete ich für eine Schweizer Firma, die Klimageräte herstellte. Das lief prima, doch leider ging das Unternehmen nach einiger Zeit pleite. 1980 wurde ich vereidigter Gutachter der Industrie- und Handelskammer, eine Aufgabe, für die man eine sehr schwere Prüfung bestehen musste.

Aber ich wollte ein Vorbild für meine beiden Söhne sein und ihnen zeigen, dass man auch im Alter noch etwas Schweres schaffen kann. Mein guter Name war mir immer sehr wichtig, schon in der Bibel steht: »Ein guter Name ist besser als gutes Öl.« Das wollte ich auch an meine Kinder weitergeben. Werte wie diese zählen heute leider nicht mehr so viel.

Stattdessen ist es immer schwieriger, zu wissen, was richtig ist und was falsch. Mir ist wichtig, dass man das, was man anfängt, zu Ende bringt. So handhabten es auch meine Eltern: Während meines Studiums hatte ich überlegt, Rabbiner zu werden – das hätte gut zu mir gepasst. Aber meine Eltern bestanden darauf, dass ich erst das Studium abschließe.

Hebräisch Nebenbei war ich zudem Dolmetscher, etwa für israelische Delegationen beim damaligen Regierenden Bürgermeister Heinrich Albertz. Auch Heinz Galinski rief mich, wenn Gruppen aus Israel die Gemeinde besuchten. Sie stellten ihm die immer gleichen Fragen: Wie ist es, als Jude in Deutschland zu leben? Wie kann es sein, dass ein Gemeindevorsitzender kein Hebräisch spricht? Das hat ihn immer sehr wütend gemacht. Galinski war sehr streng, man konnte ihn schon fast diktatorisch nennen, aber er hat sehr viel für die Gemeinde erreicht.

Mir war es immer sehr wichtig, in all meinen Positionen Aufklärung zu fördern – als Religions- und Barmizwa-Lehrer, bei den Kursen, die ich an der Jüdischen Volkshochschule gegeben habe, in meinem Unterricht für Konvertiten oder auch in meiner Zeit im Vorstand der Synagoge Pestalozzistraße. Dank meiner guten Kenntnis der Religion und Geschichte Israels konnte ich Schülergruppen, nach der Wende auch aus Ostdeutschland, in anderthalb Stunden alles über das Judentum erzählen.

Schon vor dem Fall der Mauer habe ich Rabbiner Stein von meiner Synagoge in die DDR begleitet: Er besuchte dort eine Chanukkafeier im Berliner Café Moskau. Der Rabbiner regte dann an, ehrenamtlich einmal pro Woche Religionsunterricht zu geben und Vorträge zu jüdischen Themen in Ost-Berlin zu halten. All diese Aktivitäten kamen zu meiner Tätigkeit an der Hochschule hinzu.

Ohne meine Frau Lilian hätte ich das nicht geschafft. Sie hielt mir den Rücken frei, obwohl sie selbst seit Jahren im Vorstand der WIZO sehr aktiv war und weiterhin ist.

israel Dass so viele junge Israelis nach Berlin kommen – für mich ist das ein Aderlass. Diese jungen Menschen verlassen die Heimat, ohne schon das starke jüdische Selbstvertrauen zu haben. Das brauchen sie aber, um Antisemitismus zu begegnen. Ich selbst habe glücklicherweise nie damit Erfahrungen machen müssen, aber es kann eben doch passieren. Zudem bewundere ich, was Israel erreicht hat.

Ich habe nie geplant, in Deutschland zu bleiben – es war eher ein schleichender Prozess. Israel wird immer meine Heimat sein. Ich bin zu alt, um mich angesichts der Geschichte als Deutscher zu fühlen. Ich habe zwar beide Staatsangehörigkeiten, aber wichtig ist mein Gefühl, das mir sagt, dass ich im Herzen Israeli bin. Deswegen war ich auch lange Vorsitzender der Zionistischen Organisation Berlin.

Mittlerweile würde ich mich als traditionell, aber nicht religiös bezeichnen. Angesichts dessen, was in der Welt passiert, finde ich Religion schwierig. Das Leben ist dynamisch. Alles verändert sich.

Mein Leben war bislang sehr interessant: Ich habe mit der Schoa den größten Niedergang des Judentums miterlebt, aber auch seine Wiedergeburt. Ich habe in Berlin den Mauerbau erlebt und später die Wiedervereinigung. Insgesamt war es ein sehr reiches Leben – ich hoffe, dass es jetzt ruhig bleibt.

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