Heiligenstadt

Straßenschilder statt Stolpersteine

Max Loewenhal klopft Christian Stützer auf den Rücken. Beide Männer sind 35 Jahre alt und sichtlich zufrieden – denn eine erfolgreiche Spurensuche liegt hinter ihnen. Als sie sich Anfang Juli in Heiligenstadt treffen, einer Kleinstadt in Thüringen, blicken sie gemeinsam auf ein fabrikneues Straßenschild, das den Namen von Max’ Urgroßvater trägt: »Alexander-Loewenthal-Straße« steht in glänzenden schwarzen Buchstaben auf weißem Grund, darunter der Zusatz: »Geboren 1872 in Heiligenstadt, ermordet 1943 im Ghetto Theresienstadt«.

Das Schild weist zu einem Wohnviertel, das erst noch gebaut werden soll. Einfamilienhäuser, Gärten, Idylle pur. Wer genau hier einzieht, ist noch unklar, die acht Straßennamen hingegen stehen schon fest: Sie alle tragen die Namen ehemaliger jüdischer Heiligenstädter.

Max und Christian sprechen Englisch miteinander. Loewenthal wurde in Los Angeles geboren, Stützer im thüringischen Landkreis Eichsfeld. Gut möglich, dass sich ihre Urgroßväter kannten. Es ist sogar sehr wahrscheinlich: Dort, wo die größte Stadt nur 16.000 Einwohner hat, kennt man sich eben. Max, der US-Amerikaner, spricht kein Deutsch mehr.

Aber er ist extra aus den USA angereist, zusammen mit seiner Frau, seinem Vater und den Schwiegereltern, um den Wurzeln seiner Familiengeschichte zu begegnen. Und Christian, dem Initiator der Straßenschilder. Denn er will sich bedanken für die Initiative, die jüdisches Leben in Heiligenstadt vor dem Vergessen bewahrt.

Initiativkreis Christian Stützers Idee, Straßennamen ermordeter oder geflohener jüdischer Heiligenstädter Frauen und Männer zu benennen, mag auf den ersten Blick zufällig wirken. Tatsächlich entspringt sie einer gewissen Logik: Denn der Jurastudent war von der Stolperstein-Initiative in anderen Regionen Deutschlands begeistert. »Das wollte ich auch für Heiligenstadt«, sagt er. Er ging zum Stadtrat und beantragte eine Forschungserlaubnis. Der Stadtrat stimmte zu. So entdeckte Stützer die Spuren jüdischer Vergangenheit in der Stadt.

Gemeinsam mit dem evangelischen Pfarrer Ralf Schultz und dem Diakon Johann Freitag gründete er daraufhin 2007 den Initiativkreis »Jüdisches Erbe in Heiligenstadt«. Seitdem suchen die drei Initiatoren nach immer neuen Wegen, dieses Erbe in den Heiligenstädter Lebensalltag einzubinden. Das neue Wohngebiet »Auf dem Hohen Raine« schien dafür geradezu ideal – acht Straßen, die durch das Areal und in die Stadt führen, waren dort vorgesehen.

»Warum nicht die Namen ehemaliger jüdischer Bewohner?«, fragte Christian Stützer die Stadtratsmitglieder. Die sahen das ähnlich und stärkten Stützer und seiner Initiative den Rücken. Mit Erfolg: Der Jurist forschte nach jüdischen Frauen und Männern, die in Heiligenstadt gelebt hatten. Er stieß auf einen Bankier und eine Musiklehrerin, einen Kaufmann und eine Kaufhaus-Direktorin. Die Biografien zeigen: Sie alle hatten die thüringische Kleinstadt mitgeprägt.

Insgesamt acht Namen regte Stützer für die Straßen an. Dann, in der Stadtratssitzung, die Sensation: Die Abstimmung fällt einstimmig aus – über alle Parteigrenzen hinweg sind sich die Stadtratsmitglieder einig. »Das dürfte es in dieser Weise deutschland- und vielleicht sogar europaweit kein zweites Mal geben«, bemerkt Reinhard Schramm, Vorsitzender der Jüdischen Landesgemeinde Thüringen. Er ist von so viel Engagement beeindruckt. Es mache ihm Mut: So glaubt er nun auch daran, dass sogar der jüdische Friedhof in Heiligenstadt weiterhin erhalten werden kann.

Friedhof Es war ein großer Zufall, dass der Friedhof 1829 überhaupt in Heiligenstadt angelegt wurde: Ein sechs Monate alter jüdischer Junge, dessen Eltern gerade erst nach Heiligenstadt gezogen waren, starb. Ihre Religion verbat den Eltern die Beerdigung auf dem katholischen Friedhof. Die Stadt wies ihnen daraufhin ein Stück Land zu, das damals noch außerhalb des Ortes lag, rund 887 Quadratmeter.

Mitte des 19. Jahrhunderts lebten knapp 80 Juden in Heiligenstadt. Dabei reicht das jüdische Erbe der Stadt bis ins Mittelalter zurück: Bereits zu Beginn des 13. Jahrhunderts sollen Juden in Heiligenstadt gelebt haben. Doch wie fast überall in Thüringen wurden sie vermutlich in Zusammenhang mit den Pestpogromen von 1348/1349 vertrieben.

Erst um 1470 durften sich jüdische Familien wieder in Heiligenstadt ansiedeln. Doch der Neuanfang war nur von kurzer Dauer: Rund ein Jahrhundert später wurden alle Juden aus dem Eichsfeld vertrieben – und somit auch aus Heiligenstadt. Dass jüdisches Leben nach Heiligenstadt zurückkehrte, mag mit dem Friedhof zu tun haben. Zu der Begräbnisstätte kam 1873 eine Synagoge hinzu.

Heute liegt der Friedhof mitten in der Stadt. Er ist vor allem eine Kulturstätte, denn seit der Vertreibung und Ermordung der Juden kehrte nach der Schoa niemand zurück – bis auf Pauline Löwenstein, die das Konzentrationslager Theresienstadt überlebt hatte. Auch an sie erinnert von nun an eine nach ihr benannte Straße. Sie starb 1947 und wurde in Heiligenstadt begraben: Es war damals die letzte Beerdigung auf dem jüdischen Friedhof mit seinen insgesamt 75 Gräbern.

Finanzierung »Wir wollen uns dafür einsetzen, dass wir immer Geld für die Restaurierung aufbringen können«, versichert Bürgermeister Thomas Spielmann. Dass sie es kann, hat die Stadtverwaltung hinlänglich bewiesen: In den 90er-Jahren etwa fiel ein gusseisernes Grab von 1855 regelrecht in sich zusammen. Mit Lottomitteln des Landes und Geld aus der Stadtkasse wurde es für 11.000 Euro restauriert.

Dass ausgerechnet dieses restaurierte Grab die letzte Ruhestätte für einen Urgroßonkel der Loewenthals aus Los Angeles ist, findet Max Loewenthal bemerkenswert. Auch Vater Alex ist fasziniert. Er ist zum ersten Mal in Heiligenstadt zu Gast, obwohl er Deutschland mittlerweile schon häufiger besucht hat. »Aber in die DDR durfte ich nicht reisen. Denn ich wurde in der Türkei geboren«, erzählt der 64-Jährige.

Sein Vater war 1934 als Mediziner dem Ruf seines Professors an die Universität in Istanbul gefolgt – für ihn und die Familie damals die Rettung vor den Nazis. Später ging Alex von dort aus zum Studium in die USA, promovierte und wurde Professor an einer Universität. Nun ist er Rentner und fit genug, endlich die Stadt seines Großvaters kennenzulernen. Vielleicht wäre er dennoch nicht genau dorthin gereist.

Doch an diesem Tag ist er froh, an dem Straßenschild zu stehen, das seinen Großvater ehrt. »Allerdings habe ich gemischte Gefühle«, gibt er nachdenklich zu. »Natürlich ist es eine große Ehre, dass eine so lange Straße nach ihm benannt wurde. Aber mir wäre es lieber gewesen, ich hätte ihn kennenlernen dürfen«, sagt er leise.

Für Max Loewenthal und Christian Stützer steht jedenfalls eines jetzt schon fest: Sie werden sich ganz sicher wiedersehen. »Nach unserer ersten Begegnung dachte ich, der Deutsche werde nichts Neues mehr über meine Familie herausfinden. Heute weiß ich: Es wird immer wieder Unerforschtes geben«, sagt Max. Und fügt lächelnd hinzu: »Ich komme gern wieder.«

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024