Einblicke

Ein Gott, zwei Bücher

Das Verhältnis zwischen Juden und Muslimen scheint dieser Tage oftmals von Misstrauen, Angst und Feindschaft belastet. Bilder von Anschlägen auf jüdische Einrichtungen in Europa, von Terrorakten und Luftschlägen im Gaza-Krieg des vergangenen Sommers sind nicht selten die ersten Assoziationen von Menschen, fragt man sie nach der Beziehung zwischen Islam und Judentum.

Lange Zeit galt der Orient den Juden gegenüber als großzügig. Über Jahrhunderte hinweg blühte das jüdische Leben in Istanbul, Kairo und Bagdad, während in Europa Inquisition und Kreuzzüge jüdische Gemeinden zerstörten. Doch die Geschichte der Beziehungen zwischen Juden und Muslimen ist seit den Tagen Mohammeds und seiner Gefährten stets wechselvoll geblieben.

Die jüdischen Gemeinden waren zu jeder Zeit auf das Wohlwollen der Mächtigen angewiesen, sodass uns klar sein muss, dass die Qualität des islamisch-jüdischen Verhältnisses immer vom guten Willen des herrschenden muslimischen Machthabers abhängig war.

Vorgängerreligion
Betrachtet man die Lehren des Korans genauer, so ist augenscheinlich, dass der Islam die unverkennbare Handschrift des Judentums, seiner Vorgängerreligion, in sich trägt. Wie aber äußert sich die Heilige Schrift der Muslime über die Juden? Als der Islam im siebenten Jahrhundert n.d.Z. die Bühne der Weltgeschichte betrat, hatte die Hebräische Bibel ihre heutige Form bereits seit mindestens 600 Jahren angenommen, und der Babylonische Talmud war seit zwei Jahrhunderten kodifiziert.

Aus diesem Grund können die heiligen Texte des Judentums keine Beschreibungen des Islam enthalten. Der aufkommende Islam stellte die religiösen Autoritäten des Judentums vor eine nie dagewesene Herausforderung: Eine strikt monotheistische Konkurrenz war durch Mohammed und seine Gefolgschaft etabliert worden. Die Regeln, die der Talmud für den Umgang mit anderen Religionen aufstellte, bezogen sich in erster Linie auf polytheistische Glaubensformen, sodass neue Antworten auf die islamische Konkurrenz gefunden werden mussten.

Die Aussagen des wohl bedeutendsten jüdischen Denkers des Mittelalters, Moses Maimonides (Rambam), zum Islam gelten bis auf den heutigen Tag in der jüdischen Welt als kaum umstritten. Maimonides wirkte im 12. Jahrhundert als Oberrabbiner, Philosoph und Leibarzt etablierter jüdischer Kreise in Kairo und genoss unter Muslimen ebenfalls größten Respekt. Er war in der arabischen Sprache ebenso versiert wie im Hebräischen, publizierte weltliche Werke auf Arabisch, während er das Hebräische religiösen Werken vorbehielt.

Götzendienst Der Götzendienst stellt eine der schwerwiegendsten Sünden im Judentum dar und ist einer der klassischen Vorwürfe der Juden gegenüber ihrer paganen Umwelt. Den Islam spricht Maimonides in einem bekannten Brief an einen zum Judentum konvertierten Muslim namens Ovadiah vom Vorwurf des Götzendienstes frei. Ovadiah war von seinem Rabbi ob seines muslimischen Hintergrundes, den dieser Götzendienst nannte, verspottet worden und hatte Maimonides nach seiner Meinung gefragt.

Das Verbot, den Wein der Götzendiener zu trinken, ist im Talmud verankert. Die Rabbiner verboten aber auch, den Wein eines Muslims oder eines anderen Nichtjuden zu trinken – allerdings aus anderen Gründen als im Fall der Götzendiener, weil deren Wein für religiöse Rituale Verwendung gefunden haben mochte. Prinzipiell sollten zu enge, nach dem Genuss einiger Gläser Wein entstehende persönliche Beziehungen vermieden werden, da sie zum Abfall vom Judentum führen könnten.

Moschee Die Mischna verbietet, einen polytheistischen Tempel zu betreten. Über den Status einer Moschee waren sich spätere Gelehrte uneins. Wurde nicht dort der Name des Propheten Mohammed verherrlicht?, fragten sich viele unserer Weisen. Doch die meisten Autoritäten schlossen sich Maimonides an und erlaubten den Moscheebesuch. Der kürzlich verstorbene israelische Oberrabbiner Ovadia Yosef empfahl in einer Response gar, in einer Moschee zu beten und dort die Tora zu studieren.

Das Judentum missioniert im Gegensatz zum Islam bekanntlich nicht. Es fordert von keinem Nichtjuden die Einhaltung der 613 Gebote der Tora, aber es verlangt von jedem die Akzeptanz der Einheit Gottes. Auch im Islam wird nach dem Beispiel des Judentums einzig der eine körperlose Gott verherrlicht. Maimonides rechnet Islam und Christentum in seinem Gesetzeswerk Mischne Tora außerdem hoch an, dass sie die Lehre der Tora, ihrer Gebote und des Messias in alle Welt verbreiteten. Trotzdem irrt der Islam aus jüdischer Sicht, da er die Erzählungen der Tora veränderte.

Nach muslimischem Verständnis stellt die Heilige Schrift des Islam das authentische Wort Gottes dar, das dem Propheten Mohammed aus dem Munde des Engels Gabriel im Laufe von zwei Jahrzehnten, zwischen 610 und 632, diktiert wurde. Dies geschah gemäß islamischer Überlieferung in Form einzelner Suren und Verse, die Mohammed mündlich an seine Gefolgschaft weitergab. Diese 114 Suren, die wiederum in eine unterschiedliche Anzahl von Versen untergliedert sind, wurden zunächst mündlich tradiert und sind in ihrer heutigen Form Mitte des siebten Jahrhunderts kodifiziert worden.

Zeugnisse Die frühesten Zeugnisse über die Begegnung von Juden und Muslimen finden sich im Koran selbst und sind daher für das Bild von Juden in der islamischen Welt bis heute richtungsweisend. Zur Zeit des Propheten Mohammed existierte jüdisches Leben auf der arabischen Halbinsel schon seit Langem. Legenden datieren jüdische Einflüsse gar bis in biblische Zeiten zurück. Die jüdischen Gemeinschaften waren in lokalen Stämmen organisiert, die denen der Araber ähnelten und sich in ihren Lebensgewohnheiten weitgehend an der arabischen Umweltkultur orientierten.

Es ist anzunehmen, dass Mohammeds erste Berührungen mit dem Monotheismus die Begegnungen und Gespräche mit jüdischen und christlichen Händlern waren, die dem Analphabeten Mohammed von ihren Schriften erzählten. Das Judentum mit seinem strengen Monotheismus ist als Hauptinspirationsquelle des Korans zu betrachten, der weite Teile der biblischen Motive in sich aufnahm, wenn auch abweichend interpretiert.

Mohammed verortet sich selbst in der Traditionskette der israelitischen Propheten und betrachtet sich als ihr Abschluss und Siegel. Doch im Koran gibt es sowohl positive als auch extrem abwertende Äußerungen über Juden.

Im Koran tauchen Juden 43-mal unter dem Begriff Söhne Israels und elf Mal direkt unter dem Namen Jude auf. Die frühen Suren des Korans zeichnen ein weitgehend freundliches Judenbild. Mohammed respektierte sie ob ihres klaren Monotheismus, sah in ihnen die legitimen Vorgänger seiner Bewegung und nahm sich jüdisch-religiöse Praktiken zum Vorbild für die Riten des Islam. So zum Beispiel das Freitagsgebet, das an die Kabbalat Schabbat angelehnt sein könnte.

Ramadan Ein weiteres Beispiel: Am vergangenen Donnerstag hat der Ramadan begonnen. Jom Kippur, der höchste Feiertag der Juden, könnte dem muslimischen Fastenmonat als Vorbild gedient haben. Das überzeugendste Beispiel für die Nähe des frühen Islam zum Judentum aber war die Ausrichtung des muslimischen Gebets in Richtung Jerusalem, die bis zum Jahr 623 Bestand hatte. Im Koran werden Juden und Christen als die »Ahl al-Kitab« bezeichnet – »die Leute der Schrift«.

Der Koran spricht im Tenor der Einheit des Monotheismus und der Toleranz unter den Buchreligionen: »Euch euer Glaube und mir mein Glaube« (Sure 109,6); ein Vers, der von »Ungläubigen« spricht, aber die Religionsfreiheit dennoch zu garantieren scheint. Die Auswanderung Mohammeds und seiner Gefährten von Mekka nach Medina im Jahre 622 markiert den Bruch im zunächst freundschaftlichen Verhältnis des Islam zu seinen

Medina Nach seiner Ankunft in Medina gewann der in Mekka von den Eliten gehasste und verachtete Prophet rasch an Ansehen und Einfluss. Hier errichtete er ein islamisches Staatswesen, das die Keimzelle für die gigantischen Eroberungen bildete, die in den nächsten Jahrhunderten unter dem Banner Mohammeds gelangen. Wo in den mekkanischen Suren noch von der Einheit des Monotheismus zu lesen war: »Oh, Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch« (Sure 3,64), vollzieht Mohammed nun eine scharfe Trennung zwischen den drei heiligen Texten und lässt nur noch den Koran allein als authentisch gelten.

Er wirft Christen und Juden vor, die Gottesbotschaft bewusst verfälscht zu haben, und verwirft damit die Hebräische Bibel und das Neue Testament. Außerdem ändert er die Gebetsrichtung von Jerusalem nach Mekka, wodurch die Stadt mit ihrem Heiligtum, der Kaaba, zum Zentrum des Islam wurde. Schließlich beschreibt Sure 33,26 den Sieg über die jüdischen Stämme von Medina: »Und Er brachte die aus dem Volk der Schrift, die ihnen halfen, von ihren Burgen herunter und warf Schrecken in ihre Herzen. Einen Teil tötetet ihr, und einen Teil nahmt ihr gefangen.«

Zwei weitere medinensische Suren lesen sich wie Drohungen gegen Juden und Christen: »O ihr, denen die Schrift gegeben wurde! Glaubt an das, was Wir hinabsandten (...), bevor wir (eure) Gesichter auslöschen und verkehren oder euch verfluchen, wie wir die Leute des Sabbats verfluchen. Und Allahs Befehl wird vollzogen« (Sure 4,47). Besonders drastische Äußerungen findet man in Sure 5,59: »Wen Allah verflucht hat und wem Er zürnt und wen Er in Affen und Schweine verwandelt hat und wer den Götzen dient – die befinden sich in schlimmem Zustand und sind vom rechten Weg weit abgeirrt.«

Paradigmenwechsel Für den Paradigmenwechsel von den mekkanischen Suren zu denen aus Medina lassen sich zwei einfache Erklärungen finden: Zunächst wurde die Hoffnung Mohammeds enttäuscht, Christen, aber vor allem die weitaus zahlreicheren Juden für den Islam zu gewinnen. Die jüdischen Stämme Arabiens lehnten die Einladung Mohammeds ab, Teil seiner Bewegung zu werden. Zudem dienten die Angriffe der neuen, sich konstituierenden Bewegung gegen ihr etabliertes Vorbild einer scharfen Abgrenzung, um sich in ihrer Andersartigkeit zu legitimieren.

Eine zweite These wäre schlicht, dass es sich die Muslime nun erlauben konnten, sich intolerant zu verhalten. Als Mohammed und seine Gefährten zu Beginn selbst eine gefährdete Minderheit darstellten, gebot es sich, Toleranz zu predigen. Mit wachsendem Einfluss waren sie nicht länger auf das Wohlwollen anderer, insbesondere der Juden, angewiesen.

Bis in die heutige Zeit können wir diese Dialektik im Verhältnis von Muslimen und Juden erkennen. Weder sollten wir deshalb den Islam generell als antisemitisch brandmarken – noch die problematischen Stellen des Koran ignorieren. Nur so können Anhänger der beiden Buchreligionen in einen ehrlichen und konstruktiven Dialog miteinander treten.

Der Autor studiert Modern Judaism im Masterstudiengang an der Freien Universität Berlin und am Touro College. Er ist Stipendiat des Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerks (ELES).

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