USA

Yo! Talmud

Yitzchak (Yitz) Jordan fällt nicht auf hier, im unteren Manhattan, wo die junge, coole Avantgarde der Stadt lebt und arbeitet. Sein zotteliger Bart ist en vogue, die engen schwarzen Jeans stecken lässig in den lose gebundenen Stiefeln, als er aus einem Bürogebäude auf die Park Avenue tritt. Niemand dreht hier im Viertel, wo er in einem Loft bei einem der vielen Internet-Start-ups arbeitet, den Kopf nach ihm um. Ein Hipster unter Hipstern.

Downtown New York ist einer der wenigen Orte der Welt, an denen Yitz sich einfügt, wo er hinpasst, in dieses Biotop für Menschen, die nirgendwo sonst wirklich dazu gehören. Ansonsten ist Yitz beinahe immer und überall ein Außenseiter.

Hip-Hop Schon in der schwarzen Nachbarschaft East Baltimore, wo Jordan als Sohn eines Äthiopiers und einer schwarzen Puerto-Ricanerin aufwuchs, fiel er aus dem Rahmen, weil er sich für das Judentum interessierte und Punk Rock hörte. In Jerusalem und später im chassidischen Teil von Brooklyn gehörte er einer winzigen schwarzen Minderheit an. Dass er als Hip-Hop-Künstler auftrat, machte die Sache nicht besser. Und als er sich 2012 zu seiner Homosexualität bekannte, wurde es für ihn gänzlich unmöglich, in Frieden im »Schtetl« zu leben, wie er die eng verwobene orthodoxe Brooklyner Gemeinde nennt.

Dazuzugehören, sich anzupassen, war für Yitz, der sich als Rapper »Y-Love« nennt, nie eine Option. Deshalb versucht er es auch schon lange nicht mehr. »Ich bin ich selbst«, sagt er, während er sich in einem Straßencafé in der Nähe des Union Square niederlässt. »Und ich habe keine Angst anzuecken.«

Dafür, dass er aneckt, sorgt allein schon seine Musik. Mit seinem Hip-Hop hat Y-Love schon immer aufgerüttelt, insbesondere in der jüdischen Community. Allein die Art und Weise, wie er zum Hip-Hop gekommen ist, war für viele eine Provokation. Beinahe 15 Jahre ist das nun her. Yitzchak besuchte eine Jeschiwa auf dem Land, etwa 60 Kilometer nördlich von New York, Y-Love brütete über Talmudversen, sein Kopf rauchte bei dem Versuch, sich all das Hebräisch und Aramäisch einzuprägen. Da hatte sein Chawruta, sein Studienpartner, eine brillante Idee: Er begann die Verse zu rappen, um sie sich merken.

»Es war ganz natürlich«, sagt Y-Love, »es kam mir so vor, als wäre der Rhythmus der Verse für den Hip-Hop gemacht.« Um zu verdeutlichen, was er meint, beginnt er spontan, Verse aus dem Traktat Baba Batra zu zitieren, und zwar die Stelle, die gebietet, seine Senfkörner vom Bienenstock des Nachbarn entfernt zu halten. Es ist ein 3000 Jahre alter Text, doch mit Y-Loves Flow klingt er so cool und zeitgemäß, wie sein Bart zum Look der New Yorker Hipster passt.

Als er mit seiner kurzen Demonstration fertig ist, grinst er und sagt stolz: »Die Tatsache, dass ich heute noch jedes Wort kann, zeigt doch, dass wir die richtige Lernmethode angewendet haben.«

Bis zu jenem Tag hatte Yitz nicht viel von Hip-Hop gehalten. »In Baltimore, wo ich aufgewachsen bin, war ich ein Hardcore-Punk. Ich hatte mir sogar das Anarchie-Zeichen auf den Kopf rasiert.« So sind für ihn die Entdeckung des Judentums und des Hip-Hop eng miteinander verknüpft. »Ich kann meinen Glauben nicht vom Hip-Hop trennen«, sagt er, »sie gehören für mich zusammen.«

Y-Love wurde ein Pionier des jüdischen Hip-Hop. Nicht, dass er der erste jüdische Rapper gewesen wäre, immerhin gab es schon in den 80er-Jahren die Beastie Boys, die alle aus orthodoxen Familien stammten oder MC Serch vom Label Def Jam. Und doch kann man Y-Love mit Fug und Recht als Begründer eines Genres bezeichnen.

Nach seiner Rückkehr nach New York begann Y-Love durch die Klubs an der Lower East Side zu ziehen und bei Open-Mic-Abenden sein eigenes Material vorzutragen. Ein Freund von damals erinnert sich, »dass der Sound eigentlich ziemlich grausam war«. Aber der Ansatz war neu und erfrischend.

Y-Love versuchte, sich zu jener Zeit in der chassidischen Gemeinde in Brooklyn einzuleben, das Judentum war sein wichtigstes Thema. Und so war er in New York einer der Ersten, die wirklich jüdischen Rap machten – Hip-Hop mit jüdischen Inhalten. Seine Texte waren durchsetzt von Talmudzitaten, er wechselte beim Rappen zwischen Aramäisch, Hebräisch und Englisch.

Bacon Cheeseburger
Heute ist jüdischer Rap eine eingeführte Hip-Hop-Strömung. Künstler wie Matisyahu, Remedy, Shyne oder The Alchemist sind Weltstars. Doch damals sorgte die Verknüpfung in der jüdischen Gemeinde für Aufruhr. »Die konservativeren Leute in Brooklyn haben so getan, als würde ich Bacon Cheeseburger in der Schulcafeteria verkaufen. Sie glaubten, ich würde Ghettoschmutz ins Schtetl bringen, ich wurde beschuldigt, die Religion zu banalisieren.«

Doch unter jüngeren Juden in Brooklyn und in den gesamten USA fand Y-Love eine rasch wachsende Anhängerschaft. »Ich bekomme täglich Fan-Post von Leuten mit Namen wie MC Moishe oder DJ Chaim, die sagen »Bitte hör dir doch mal an, was ich hier aufgenommen habe.« Die Bewegung lässt sich nicht mehr aufhalten.

Für Y-Love kam die Verbindung zwischen schwarzer Jugendkultur und Judentum natürlich und selbstverständlich. Es war nur einer der vielen scheinbaren Widersprüche, die er von Kindheit an in sich vereinigt und die ihm nie als Widersprüche erschienen.

Da waren allein die kulturellen Unterschiede seiner Eltern, des afrikanischen Vaters und der karibischen Mutter, die ihn schon in einer afro-amerikanischen Nachbarschaft zum Außenseiter machten. Y-Love war schwarz, aber doch nicht schwarz in dem Sinn, wie seine afroamerikanischen Nachbarn Schwarzsein begriffen.

Und dann war da seine seltsame Affinität zum Judentum, die er wie eine göttliche Eingebung beschreibt, eine spontane Inspiration. »Ich war sieben Jahre alt, und im Fernsehen liefen vor Weihnachten Werbeclips, die mit ›Happy Hanukkah‹ endeten«, erzählt er. »Ich weiß nur, dass ich plötzlich das unerklärliche Bedürfnis hatte, auch Chanukka zu feiern.«

Die einzige Erklärung, die Y-Love dafür hat, ist, dass es unter seinen Vorfahren möglicherweise äthiopische Juden gegeben hat. Dafür spricht auch, dass sich seine Großmutter so wie er zum Judentum hingezogen fühlte. Y-Love hat nachgeforscht, doch beweisen konnte er es nicht. Seine äthiopischen Vorfahren kamen Anfang des 20. Jahrhundert in die USA. Belege ihrer Herkunft oder Konfession gibt es nicht.

Dennoch wurde für Y-Love das Judentum zu einer Obsession. Er suchte die Nähe zu jüdischen Kindern und Familien in Baltimore, ließ sich zum Seder einladen und trug eine Kippa. Mit 14 bat er darum, konvertieren zu dürfen, doch er wurde wegen seines jungen Alters abgelehnt. Erst sieben Jahre später, als er das College beendet hatte und nach New York zog, ging sein Wunsch in Erfüllung.

In der chassidischen Gemeinde in Brooklyn fand Yitzchak eine Heimat. Er trug wie alle einen Strejmel und einen schwarzen Mantel und lebte nach den Geboten. »Meine Rasse war kein Thema«, sagt er. »Die chassidischen Juden in Amerika sehen sich doch selbst gar nicht als Weiße.«

Nur in der weiteren, stärker amerikanisierten jüdischen Gemeinde in Brooklyn bekam er seine Andersartigkeit zu spüren. »Es waren kleinere Dinge. Zum Beispiel gafften manche Kinder mich an, und in der Pizzeria wurde ich als Letzter bedient.« Solche Dinge reichten aus, dass Y-Love sich als Außenseiter fühlte, als »Bürger zweiter Klasse«, wie er sagt. Das Gefühl verstärkte sich, als er begann, mehr und mehr zu seiner Homosexualität zu stehen. Es gab immer mehr Gerüchte, nachdem seine kurze Ehe mit einer chassidischen Frau zu Ende ging. Leute aus der Nachbarschaft spionierten ihm hinterher und verbreiteten Fotos von ihm bei der Gay Pride Parade im Greenwich Village.

Im Jahr 2012 hatte Y-Love dann genug. So wie damals, bei seiner Eingebung, zum Judentum überzutreten, entschloss er sich plötzlich, das ultraorthodoxe Leben aufzugeben: Während einer Konferenz in Jerusalem lief er auf die Straße und warf seinen schwarzen Seidenmantel weg. Von da an bemühte er sich auch, Hebräisch nur noch in der modernen, sefardischen Art zu sprechen. Zurück in New York, zog er weg aus Williamsburg und ließ sich in SoHo, im Süden Manhattans, nieder.

Polizeigewalt Seitdem begeht er zwar immer noch die Hohen Feiertage und geht in die Synagoge, doch der Schwerpunkt seines Lebens hat sich verschoben. Er ist Musiker, Web-Designer, Journalist und politischer Aktivist. Er hat die Occupy-Bewegung unterstützt und Kolumnen geschrieben über die Polizeigewalt gegen Afro-Amerikaner in New York, Ferguson und Baltimore.

Doch trotz alledem, trotz seines neu gefundenen kosmopolitischen Lebensstils, ist es noch immer sein Judentum, das ihn am meisten umtreibt, persönlich und als Künstler. So nennt sich eines seiner neuesten Stücke »Unity«. Es ist ein leidenschaftliches Plädoyer dafür, den Begriff davon, was jüdisch ist, zu öffnen. Juden, so die Botschaft, leben in allen Ländern der Welt und haben unzählige kulturelle und ethnische Wurzeln. Im Refrain beschwört er »Olam Echad« – eine Welt – sowie Achad Ha’am, den Vater und Theoretiker eines spirituellen Zionismus, dem Y-Love sich verbunden fühlt.

»Mein Rabbi in Brooklyn«, sagt Y-Love, »hat mir einmal gesagt, dass die Annahme einer jüdischen Identität keine Amputation bedeuten darf, sondern eine Integration«, sagt Y-Love. Das ist es, was Y-Love sich wünscht: all das, was er ist, mitnehmen zu dürfen in sein jüdisches Leben – Hip-Hop, seine afro-karibischen Wurzeln, seine Homosexualität. »Das schädigt doch den Glauben nicht«, sagt er. »Im Gegenteil, es macht ihn reicher.«

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