Schawuot

Goliaths Mutter

Die biblische Orpa hatte dasselbe Potenzial wie Ruth – doch ihr fehlte die Entschlossenheit

von Rabbiner Dovid Rosenfeld  18.05.2015 20:57 Uhr

Während Ruth sich ihrer Schwiegermutter anschließen will, wendet Orpa sich ab. Holzschnitt nach Gustave Doré Foto: Ullstein

Die biblische Orpa hatte dasselbe Potenzial wie Ruth – doch ihr fehlte die Entschlossenheit

von Rabbiner Dovid Rosenfeld  18.05.2015 20:57 Uhr

An Schawuot feiern wir die Offenbarung am Sinai – als Erinnerung an die Übergabe der Tora, als Gott vom Berg herab zum jüdischem Volk sprach: »Ich bin der Herr, euer Gott.« In der Synagoge lesen wir das Buch Ruth. Es erzählt die ergreifende Geschichte von Ruth, der Moabiterin, die alles verlässt, um ihrer Schwiegermutter Naomi in das Heilige Land zu folgen.

»Wo du hingehst, da will ich auch hingehen; wo du bleibst, da bleibe ich auch. Dein Volk ist mein Volk, und dein Gott ist mein Gott«, heißt es im Buch Ruth 1,16. Und Ruth, die das Judentum von ganzem Herzen annimmt, wird später sogar zur Urgroßmutter König Davids.

Die Bedeutung des Buches Ruth für Schawuot ist eindeutig. So wie wir, das jüdische Volk, die Tora und den Auftrag vom Sinai aus freiem Willen annahmen, so tritt auch Ruth freiwillig dem Bund bei und wird Teil der Sendung des jüdischen Volkes.

Nebenhandlung Aber in der Erzählung taucht auch eine faszinierende Nebenhandlung auf, die in der jüdischen Geschichte weitreichende Folgen haben wird. Das Buch Ruth beginnt mit einer Hungersnot im Heiligen Land. Elimelech von Bethlehem verlässt das Land und zieht mit seiner Frau Naomi und den beiden Söhnen nach Moab. Dort stirbt er.

Seine Frau und seine Söhne bleiben, und die Söhne heiraten nichtjüdische Frauen – moabitische Prinzessinnen mit Namen Ruth und Orpa. Auch die Söhne sterben, und schließlich fasst Naomi – verwitwet, kinderlos und verarmt – den Entschluss, nach Israel zurückzukehren.

Naomis Schwiegertöchter, Ruth und Orpa, begleiteten sie. Wie aus dem Talmud (Yevamot 47b) hervorgeht, taten sie das nicht aus reiner Gefälligkeit. Auch sie wollten in das Land Israel reisen und dort leben. Im Laufe ihres Ehelebens hatten sie sich dem Judentum angeschlossen. Sie wollten richtige Jüdinnen werden, die Glaubensvorschriften befolgen und im Gelobten Land leben.

Konversion Naomi versucht dreimal, sie davon abzuhalten (Ruth 1,8, 1,11 und 1,12). Der Talmud leitet daraus übrigens ab, wie oft man einem potenziellen Konvertiten von seinem Vorhaben abraten soll. Zweimal halten die Schwiegertöchter an ihrem Entschluss fest, beim dritten Mal wird Orpa schwach und kehrt zurück. Ruth jedoch bleibt stark. Sie reist weiter mit ihrer Schwiegermutter ins Heilige Land.

Das Buch Ruth fährt fort mit der Geschichte von Naomi und Ruth – wie sie verarmt zurück nach Bethlehem kommen, wie Ruth die Aufmerksamkeit von Boas, Naomis angesehenem Verwandten, auf sich zieht, und wie sie ihm entgegen der Konvention zu verstehen gibt, er solle sie heiraten, damit der Name des Elimelech nicht erlösche.

Anonymität Orpa hingegen verschwindet aus der Erzählung und ist vergessen. Nach ihrem kurzen Auftritt verlässt sie die historische Bühne, auf der sie offensichtlich keine Rolle mehr spielt. Sie ist eine der vielen »Fast«-Fälle, wie sie in der Geschichte immer wieder auftauchen – Menschen, die nach Größe und Unsterblichkeit streben, aber nicht fähig sind, durchzuhalten, sondern in der Anonymität verschwinden.

Doch unsere Weisen wissen von einem faszinierenden Postskriptum in der Erzählung von Orpa. Ihre Nachkommen werden eine wichtige Rolle in der jüdischen Geschichte spielen – sozusagen auf der gegnerischen Seite.

Kandidatin Orpa, so könnten wir an diesem Punkt denken, war doch kein schlechter Mensch. Sie war eine ernsthafte Kandidatin für den Übertritt zum Judentum. Sie nahm Religion und Spiritualität ernst. Es fehlte nur ganz wenig, und sie wäre vollständig konvertiert.

Doch der Talmud sagt etwas anderes. Sobald sich Orpa von Naomi und Ruth getrennt hatte, ging sie den exakt entgegengesetzten Weg. Naomi sagt, sie sei zu »ihrem Volk und zu ihrem Gott« heimgekehrt (Ruth 1,15).

Soldaten Der Talmud (Sotah 42b) erklärt, was als Nächstes passierte. Nach dem Abschied von Naomi und Ruth stieß Orpa auf ein Bataillon von 100 Soldaten und gab sich ihnen allen hin. Sie wurde schwanger und gebar den Riesen Goliath, auf den der junge David später im Kampf treffen wird.

Es steckt eine eindringliche Botschaft in dieser Geschichte. Orpa hatte das Potenzial zu Größe. Beinahe gab sie ihre Vergangenheit und ihre Heimat auf, um eine neue Religion anzunehmen. Sie war bereit, alles für ihre Überzeugungen zu geben und Naomi zu folgen, egal wie hoch der Preis sein würde. Sie trug die Saat der Größe in sich. Doch sie hat es nicht getan. Sie schreckte davor zurück. Stattdessen kämpfte sie mit dem gleichen Eifer und der gleichen Selbstaufopferung auf der anderen Seite.

energie Was mit Orpa geschah, ist genau das, was wir im Laufe der Geschichte bei vielen großartigen Menschen beobachten. Wenn eine Person das Potenzial zu Größe hat (wie wir alle) und dieses Potenzial missbraucht, stehen ihr immer noch die gleichen enormen Energien zur Verfügung, und sie kann sie für das Böse einsetzen.

Orpa wäre fast ein großartiger Mensch geworden. Aber sie konnte nicht durchhalten. Frustriert von der Religion, nutzte sie denselben machtvollen Trieb, etwas Großes zu leisten, um es in der physischen Welt zu etwas zu bringen. Statt zu einer spirituellen Riesin zu werden, wurde sie Mutter von körperlichen Riesen.

Giganten Das zweite Buch Samuel 21,22 beschreibt, dass alle diese Giganten von König David und seinen Truppen erschlagen wurden (»Diese vier stammten vom Geschlecht der Riesen in Gath und fielen durch die Hand Davids und seiner Kriegsleute.«) Die Nemesis von Orpa war Ruth, die durchhielt und ihre Entschlossenheit, etwas zu erreichen, in ein Leben voller Größe verwandelte.

Ruth wurde Mutter in Israel, und später sogar Urgroßmutter eines geistigen Riesen: David. Und Goliath fiel im Kampf mit David – in einem Kampf, der im Grunde ein Kampf zwischen zwei Weltanschauungen war: physisch versus spirituell. Wie der Talmud Sotah (42b) es ausdrückt: »Der Heilige, gesegnet sei Er, sagt: Lasst die Kinder der Geküssten (von Orpa, die Naomi zum Abschied küsste) in die Hände der Söhne derjenigen fallen, die an ihrem Ziel festhielt.«

Die Geschichte von Ruth und Orpa ist somit eine Geschichte des enormen Potenzials der Menschheit, Großes zu erreichen – und das unglaublich hohe Risiko, das damit einhergeht, je nachdem, wie wir mit diesem Potenzial umgehen.

Unsterblichkeit Sie ist auch eine wichtige Lektion zur Offenbarung am Sinai, die wir an Schawuot feiern. Die Menschen haben ein enormes Potenzial zu Größe. Wir haben einen natürlichen Antrieb, etwas aus uns zu machen, um Unsterblichkeit zu erlangen. Gott hat Israel die Tora gegeben, damit wir diese Kräfte in die richtigen Kanäle lenken.

Die Gebote der Tora sind nicht nur Handlungen, die wir ausführen, um himmlischen Lohn zu verdienen. Sie sind ein Mittel, um uns selbst weiterzuentwickeln, unsere Tatkraft für die Vervollkommnung der Welt einzusetzen.

Auf dem Sinai standen wir Gott von Angesicht zu Angesicht gegenüber – dem Gott, nach dem wir uns gesehnt hatten. Und wir wurden für alle Ewigkeit beauftragt mit der Mission, nach Ihm zu streben und die Kluft zwischen der physischen Welt und dem Göttlichen zu überwinden.

Spiritualität Die Begegnung am Sinai weckte in uns einen gewaltigen Trieb nach Spiritualität und Unsterblichkeit. Seither waren Juden nicht in der Lage, still zu sitzen. Wir sind getrieben, das Ziel zu erreichen, Erfüllung zu finden und gottgleich und ewig zu werden.

Mit solch hehren Zielen steht für uns ungeheuer viel auf dem Spiel. Gott gab uns die Tora, damit wir unsere Energien zum Guten hinlenken und nach bedeutungsvollen Zielen streben. Damit wir unsere mächtigsten Gefühle und Emotionen auf Gott richten. Wenn wir das tun, gibt es keine Grenze für das, was wir erreichen können – keine Grenze dafür, wie stark unsere Beziehung zu Gott ist.

Andernfalls werden wir zu allen möglichen Dingen getrieben – Kommunismus, Anarchismus, Liberalismus, Kapitalismus und was der -ismen mehr sind. Nachdem wir Gott auf dem Berg Sinai sahen, konnten wir nie wieder still sitzen und dieselben bleiben. Wir wurden lebendig, besessen – getrieben, etwas zu bewirken. Und die Tora lehrte uns, diesen Trieb in die richtige Richtung zu lenken.

Übersetzung und Abdruck mit freundlicher Genehmigung von www.aish.com

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