Porträt der Woche

»In Berlin ist alles möglich«

Deborah Feldman wurde ultraorthodox erzogen und führt heute ein säkulares Leben

von Benyamin Reich  23.03.2015 18:12 Uhr

»Es war sehr schwer, meine Familie und die Gemeinschaft der Satmarer zu verlassen«: Bestsellerautorin Deborah Feldman (28) Foto: Benyamin Reich

Deborah Feldman wurde ultraorthodox erzogen und führt heute ein säkulares Leben

von Benyamin Reich  23.03.2015 18:12 Uhr

Seit diesem Winter lebe ich in Berlin. In Neukölln, um genau zu sein. Hier habe ich das Gefühl, dass wirklich alles möglich ist. Zumindest hat sich diese frühe Vorahnung für mich stets von Neuem bestätigt. Geboren und aufgewachsen bin ich hingegen in der Welt der chassidischen Satmar-Ultraorthodoxie New Yorks – ein Milieu, das im Vergleich zu Neukölln unterschiedlicher nicht sein könnte.

Meine Kindheit war nicht ganz leicht. Neben den vielen Pflichten und meiner strengen Familie kam noch der zusätzlich belastende Faktor hinzu, dass mein Vater geistig behindert ist. Mental ist er auf der Stufe eines Kindes. Als ich selbst noch eine Heranwachsende war, habe ich das gar nicht bemerkt. Doch ich erinnere mich noch genau an den Moment, als es mir irgendwann auffiel. Zuvor war er mein Held gewesen, doch nun verstand ich, dass wir auf einer Stufe standen. Das zu verkraften, war lange Zeit sehr schwer für mich.

Wurzeln Jiddisch ist meine Muttersprache. Es war auch lange Zeit die einzige Sprache, die ich beherrschte. Als Teenagerin habe ich dann heimlich Englisch gelernt. Die weltliche Literatur wurde ein Teil von mir, was meiner frommen Familie zuwider war. Doch trotz meiner Erziehung und der religiösen Umwelt schlug der Glaube bei mir nie feste Wurzeln. In meiner frühesten Kindheit habe ich Gott eher als meinen »Buddy«, als Freund, wahrgenommen, der mir dann mit zunehmendem Alter schlicht abhandengekommen ist.

Unabsichtlich gefördert wurde meine Abnabelung von den religiösen Traditionen wohl auch durch den Ausschluss als Frau aus der Welt des Toralernens, den ich von klein auf erleben musste. Manchmal hat mein Opa mich dann zur Seite genommen, um mit mir den Talmud zu lesen. Nach einer Weile bereute er dies dann immer. »Weißt du«, sagte er zu mir, »warum unsere Weisen verboten haben, mit Frauen Tora zu lernen? Weil sie zu viele unangemessene Fragen stellen.« Das war natürlich Gift für mein neugieriges und motiviertes Wesen.

Schließlich wurde ich dann verheiratet. All dies habe ich kritiklos mitgemacht, ohne je ernsthaft in Erwägung zu ziehen, die Satmar-Gemeinschaft zu verlassen. Meiner Erfahrung nach geht das vielen so. Auszubrechen – und damit auch die Familie zu opfern – fällt einem doch schwer, zumal man dann in einer neuen Welt ein neues Leben aufbauen muss. Diese Bürde wollte ich mir nicht antun.

familie Doch dann bekam ich meinen Sohn. Das ist jetzt fast neun Jahre her. Als er sich seinem dritten Geburtstag näherte, wusste ich, dass er bald in den Cheder – unsere chassidische Form einer Grundschule – gehen müsste. Das wollte ich unbedingt verhindern. Doch der Vater meines Jungen sah das anders: Man müsse sich eben der Mehrheit anpassen, dürfe nicht abweichen, sagte er. Mir aber reichte es. Ich nahm mein Kind und brach in eine mir unbekannte Welt auf.

Zu Beginn hat mir meine Familie noch Schwierigkeiten bereitet. Einer meiner Onkel zum Beispiel schrieb mir einen Brief, in dem er mir mitteilte, dass für mich bereits eine Begräbnisstelle bereitet sei und ich mich nur noch umzubringen bräuchte. Dann könne er endlich auf meinem Grab tanzen. Der Rest meiner Familie sah das ähnlich. Da verstand ich, dass meine Verwandtschaft kein Teil meiner Zukunft sein könnte.

Seit diesen vergangenen Tagen habe ich zwei Bestseller geschrieben, in denen ich dem normalen Amerikaner anhand meines Lebens die Welt der Satmar-Chassidim erkläre. Das Schreiben hat mir seelisch geholfen, mit meiner Vergangenheit zurechtzukommen. Doch auch in der mir neuen Welt der USA hatte ich Schwierigkeiten. Die Leute fragten mich oft nach meiner Biografie und warum ich so geworden bin, wie ich heute bin. Ich finde, in den Staaten wird es einem schwer gemacht, man selbst zu sein, unabhängig davon, welcher Mensch man einst gewesen ist.

schoa Deshalb hat mich mein Weg auch ins offene und tolerante Berlin geführt. Zuvor war ich nur einmal kurz in der Stadt, bevor ich den radikalen Entschluss fasste, erneut meine Koffer zu packen und dahin aufzubrechen. Das wäre für mich früher undenkbar gewesen. In meiner Kindheit war es schon verpönt, deutsche Autos oder Produkte zu kaufen und zu besitzen. Dabei habe ich auch Vorfahren aus Deutschland, die 1938 flüchteten. Jedoch stammt der größere Teil meiner Vorfahren natürlich aus Ungarn. »Natürlich« sage ich deshalb, weil die meisten Satmarer Juden aus Ungarn stammen.

Meine Oma musste in der Schoa in verschiedenen Lagern Zwangsarbeit verrichten; unter anderem in Bergen-Belsen. Sie war eine der wenigen Personen meiner Kindheit, die mir sehr nahe standen und mir die Vorgänge während der NS-Zeit in Europa erklärten. Manchmal so eindrücklich, dass ich mich im Geist in konkrete Vernichtungssituationen hineinversetzt habe. Ganz so, als wäre ich ein passiver Teil des Vernichtungsapparates gewesen. Daher war mein Umzug nach Berlin für mich kein neutrales Erlebnis. Seit letztem Herbst lerne ich nun Deutsch. Das fällt mir aufgrund meiner Jiddischkenntnisse gar nicht so schwer.

Das jüdisch-gemeinschaftliche Leben in Berlin hat mich von Anfang an überrascht: sowohl im Positiven als auch im Negativen. Aufgefallen ist mir vor allem, dass jüdisches Leben nicht selbstverständlich zu sein scheint. Jüdische Einrichtungen müssen geschützt werden, man kann sich im öffentlichen Leben nicht gefahrlos als Jude »outen«. Kippa zu tragen kann schon gefährlich sein. In Amerika ist das kein Problem, in Berlin dagegen wird man vielleicht angerempelt oder gar verprügelt.

zerrissen Auch scheint es mir so zu sein, dass die Berliner Juden oft von inneren Zwisten und Streitigkeiten untereinander geplagt sind. Das überrascht mich. Schließlich sind die Juden in Berlin, an New Yorker Maßstäben gemessen, ja eine sehr kleine Gemeinschaft. Da muss man doch zusammenhalten.

Synagogen besuche ich kaum mehr. Ich fühle mich dort nicht sicher. Stets befürchte ich, Opfer eines Anschlags zu werden. Auch diese Furcht ist vielleicht nur ein Spiegelbild meiner amerikanischen Verwöhntheit, und daran mag man ruhig Kritik üben, doch so fühle ich nun einmal.

Aber auch unabhängig vom Sicherheitsaspekt gehe ich heute nicht mehr so oft in die Synagoge. Nach meinem Empfinden sind die jüdischen Angebote für junge Erwachsene in Berlin begrenzt und oft ausschließend. Womöglich werde ich mich deshalb in diesem Bereich bald engagieren. Alte Strukturen aufzubrechen hat mir immer schon zugesagt.

freunde Ich denke, in Berlin bin ich genau an dem Ort, an dem ich gerade sein will. Hier sind Gegensätze alltäglich. Hier kann ich auch einfach alleinerziehende Mutter sein, ohne dass dies viele Fragen oder Kritik nach sich ziehen würde. Was mir auch sehr gut gefällt: Die Menschen in Berlin sind offen, lassen sich gern auf Neues ein. Meine Berliner Freunde trösten mich auch ein wenig darüber hinweg, dass ich leider keinen Kontakt mehr zu meiner Familie habe – und in Zukunft wohl auch nicht haben werde.

Vielleicht werde ich wegen meiner deutschen Ahnen irgendwann einen deutschen Pass beantragen. Ich möchte auf jeden Fall noch einige Jahre in Berlin bleiben und arbeiten. Im Moment schreibe ich an meinem dritten Buch. Was aber in der entfernteren Zukunft sein wird, kann ich nicht sagen. Solange bin ich erst einmal eine ganz gewöhnliche Neuköllner Jüdin.

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