Frankfurt

»Teil unserer Wirklichkeit«

Etwa 5000 Demonstranten protestierten am 14. September am Brandenburger Tor gegen Judenhass. Foto: Marco Limberg

»In diesem Sommer begann ich, die Welt mit anderen Augen zu sehen«, zitiert das amerikanische Blatt (New York Times, Anm. d. Red) einen 31-jährigen, aus Italien stammenden Juden, der in Brüssel in der Automobilindustrie arbeitet. »Ich war verängstigt und konnte nächtelang nicht schlafen. Zum ersten Mal kam mir der Gedanke, dass ich aufgrund meiner Religionszugehörigkeit sterben könnte.« (...)

Wo im Alltag begegnet einer in Frankfurt lebenden jüdischen Familie Antisemitismus? Die nüchterne Antwort lautet: im Grunde überall. In Gestalt der von Polizeibeamten bewachten jüdischen Kindergärten, Schulen und Gemeindeeinrichtungen, auf Demonstrationen mit judenfeindlichen Parolen, in Form verbaler Anwürfe beim öffentlichen Gebrauch einer Kippa, in Zeitungsartikeln mit antisemitisch gefärbter Israelkritik.

Laut einer Studie, die kürzlich von zwei europäischen jüdischen Organisationen vorgestellt wurde, vermeiden es 40 Prozent der in Europa lebenden Juden, sich öffentlich zu ihrer jüdischen Herkunft zu bekennen. Auf das Tragen einer Halskette mit Davidstern wird ebenso verzichtet wie auf das einer Kippa oder eines Kinder-T-Shirts mit dem Aufdruck eines jüdischen Sommercamps. Wer all das verdrängt, lebt unbesorgt. (...) Die drastischen Reaktionen auf den Gaza-Krieg haben gezeigt: Antisemitische Hetztiraden müssen endlich als ernste Gefahr erkannt und stärker geahndet werden. Dabei dürfen wir uns keinen Illusionen hingeben. Der Kampf gegen hasserfüllte Parolen im Internet ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel, der nicht abschließend zu gewinnen ist. (...)

Sichtung Großes Lob und Anerkennung haben in dieser Hinsicht zwei führende Antisemitismusforscher, die Sprach- und Kognitionswissenschaftlerin Monika Schwarz-Friesel von der TU Berlin und der Historiker Jehuda Reinharz, verdient. Sieben Jahre hindurch sammelten, klassifizierten und analysierten sie gemeinsam mit ihrem Team wissenschaftlicher Mitarbeiter Tausende von E-Mails, Briefen, Postkarten und Faxen, die an den Zentralrat und die Israelische Botschaft in Berlin aus allen Regionen Deutschlands geschickt worden waren. (...)

Wer jemals Zuschriften dieser Art lesen musste, dem fällt sofort auf, wie viele alte, längst überwunden geglaubte Stereotype von den Absendern verwendet werden. Erschreckend war in den zurückliegenden Jahren, wie stark öffentliche Debatten mit Bezug zum Judentum sofort eine Flut diffamierender Stellungnahmen auslösten. Ob im Zuge der Möllemann-Friedman-Debatte 2002, den Debatten um antisemitisch gefärbte Äußerungen des Schriftstellers Martin Walser oder der Goldhagen-Debatte 1996 um Ausmaß und Verbreitung des Judenhasses in der deutschen Bevölkerung – immer entlud sich begleitend zu der öffentlichen Diskussion tief sitzende Judenfeindschaft. Auffallend war, dass die Grenzen des Sagbaren immer ein Stück erweitert wurden. (...)

Hemmschwelle Das Internet hat die Entwicklung der Enttabuisierung stark beschleunigt. (...) Die Wissenschaftler um Monika Schwarz-Friesel fassen ihre Erkenntnisse folgendermaßen zusammen: »Neu ist die Qualität der verbalen Gewalt, neu ist die Bereitschaft von immer mehr Menschen, den Parolen zuzustimmen, neu ist die unbeschränkte Zugänglichkeit und massive Verbreitung von Verbal-Antisemitismen über das Internet. Verbreitet wird das antisemitische Gedankengut nicht nur auf Internetseiten von Rechtsradikalen, Fundamentalisten oder Islamisten, sondern auch von Internetforen, Kommentarbereichen und sozialen Netzwerkseiten der gesellschaftlichen Mitte. Die Folge sind Habitualisierungs- und Normalisierungseffekte für judenfeindliche Äußerungen.« (...)

Und der 9. November? Erfordert die durch das Internet und die Zeitläufte gewandelte Ausformung des modernen Antisemitismus eine Neuausrichtung unserer Gedenkkultur? Hat sich das Gedenken an die Pogromnacht überlebt? Nein, ganz im Gegenteil. (...) Wenn das Leid Millionen ermordeter, gequälter Menschen nicht umsonst gewesen sein soll, dann muss Auschwitz als Synonym für die Menschheitskatastrophe an sich im Bewusstsein der Weltbevölkerung verankert sein.

enttabuisierung Nur wer sich der Erinnerung stellt, wird wachsam sein für wiederkehrende Handlungsmuster, wird die schrittweise stattgefundene Enttabuisierung wahrnehmen. Er wird feststellen, dass der alte Hass im Laufe der Jahrzehnte immer neue Ausdrucksformen gefunden hat. Denn das ist das Spezifische, ja Teuflische am Antisemitismus: Er wandelt sich. Antisemitische Vorurteile passen sich neuen Gegebenheiten an, werden sprachlich variiert und existieren losgelöst vom Verhalten irgendeines Juden irgendwo auf der Welt. (...)

Die Ereignisse in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 sind ein grausames Lehrstück über die Wirkungsmacht gezielter Propaganda. Mit einem – verglichen mit heute – minimalen Einsatz von Medien oder medialen Multiplikatoren gelang es, die Entrechtung der jüdischen Bevölkerung als ein propagandistisches, brutales Schauspiel zu inszenieren. (...)

Propaganda Genial-perverse Köpfe wie Joseph Goebbels wussten um die Macht der Bilder dieser Nacht und des nächsten Tages (...). Die Bücherverbrennung auf dem Berliner Opernplatz am 10. Mai 1933 war ein erstes symbolisches Inferno. (...) Die Pogromnacht markierte die nächste Eskalationsstufe. (...) Wie stellt sich die Situation heute dar? (...) Diese Form von offenem Antisemitismus wäre vor der Ära der Internetnutzung undenkbar gewesen. Während sich die Judenhasser vor 1945 bedenkenlos als solche bezeichneten, wurde die Jahrhunderte hindurch praktizierte öffentliche Äußerung antisemitischen Gedankenguts seit Kriegsende gesetzlich und gesellschaftlich tabuisiert beziehungsweise sanktioniert.

Was bleibt, sind Aufklärung und entschlossene Gesten gegen Antisemitismus. Ein Beispiel aus jüngster Zeit ist die vor dem Brandenburger Tor stattgefundene Kundgebung »Steh auf! Nie wieder Judenhass!« Nach mehreren Demonstrationen, auf denen blanker Hass gegen Israel und die Juden skandiert wurde, fanden sich hier Mitte September führende Vertreter aus Politik und Gesellschaft ein, um die neue Form des Antisemitismus energisch und mit Nachdruck zu verurteilen.

Ob Bundespräsident, Bundeskanzlerin, die Vertreter der Kirchen – sie alle verwiesen auf die schockierenden, gegen Juden, Israel und die israelische Bevölkerung gerichteten Verbalattacken und Bildinhalte. Keiner Rede mangelte es an Nachdruck, aufrichtiger Sorge und Empörung. Diese Aufrufe zu mehr Zivilcourage und Verurteilung antisemitischer Gesinnung wurden durch die eindringlichen Appelle des Präsidenten des Zentralrats sowie des World Jewish Congress zusätzlich verstärkt.

Initiator Nachdenklichkeit hinterließen jedoch nicht die engagierten Reden, sondern zwei auffällige Tatsachen: Der Anstoß zu dieser Kundgebung ging nicht von einer politischen oder privaten Initiative aus, sondern vom Zentralrat der Juden in Deutschland. Und: Die Zahl der Teilnehmer lag bei rund 5000 Menschen. Beides zusammengenommen belegt den derzeit spürbaren Mangel an Empathie für die Situation der jüdischen Bevölkerung; beides ist Ausdruck der antisemitisch aufgeladenen Kritik an der israelischen Politik. (...)

Nüchtern und betroffen konstatiert der Journalist und Zeit-Autor Robert Leicht im Rückblick auf die denkwürdige Veranstaltung in Berlin: »Nie wieder, das ist unser offizielles Credo. Immer noch, das ist Teil unserer Wirklichkeit.« Anlässlich des Gedenkens an die Geschehnisse in der Pogromnacht 1938 muss diese Feststellung als dringende Mahnung verstanden werden, die Erinnerung an das Unfassbare stärker denn je wachzuhalten.

Der Autor ist Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Frankfurt und Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland.

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