Glossar

Kawana

»Wie ist die Kawana zu verstehen? Dass er sein Herz von jeglichen anderweitigen Gedanken abwende und sich betrachte, als stünde er vor der Glorie G’ttes« (Hilchot Tefilla 4,16). Foto: Thinkstock

Das jüdische Gebet beginnt mit Kawana – das heißt: mit Hingabe, mit der Intention zu beten, um dadurch dem Gebet seine Bedeutung zu geben. Kawana heißt, von Herzen zu beten anstatt ausschließlich auf geistiger Ebene.

Wir feiern einen Schabbat oder einen Feiertag mit Kawana. Sie gibt diesen Tagen einen tieferen Sinn und eine reichere Gestaltungsmöglichkeit. Kawana verleiht unseren Ritualen, wie der jüdischen Eheschließung, der Geburt eines Kindes und sogar dem Tod, eine Bedeutung. Sie spornt uns an, eine Mizwa bewusster durchzuführen. Kawana ist das Kernstück und das Herz jüdischer Frömmigkeit.

Hingabe Dieser eine Begriff umfasst unsere ganze innere Haltung, um bewusst in der Gegenwart G’ttes zu leben. Der Religionsphilosoph Martin Buber (1878–1965) schrieb einmal: »Kawana ist das Mysterium der auf ein Ziel gerichteten Seele.« Die Gelehrten des Talmuds erklären das Wesen der Kawana weniger mystisch: Das Herz des Betenden soll dem Dienst G’ttes geweiht sein. Er soll die Vergnügungen dieser Welt von sich weisen, er soll sein Herz von den Eitelkeiten des Alltags reinigen. Dann erst kann sein Gebet emporsteigen (Berachot 30).

In seiner volkstümlichen Erbauungsschrift Chowot Halewawot (Herzenspflichten) nennt der mittelalterliche Philosoph Bachja ibn Pakuda die Kawana beim Gebet als einen Weg zur Unterwerfung der Seele vor der Erhabenheit G’ttes.

Rambam, Maimonides (1138–1204), der größte jüdische Philosoph und Kodifikator des Mittelalters, schrieb über den Stellenwert des Gebets: »Die Verrichtung der Tagesgebete bedeutet eine religiöse Pflichterfüllung, da in der Tora im 2. Buch Mose 23,15 geschrieben steht: ›Dem Ewigen, eurem G’tt, sollt ihr dienen‹« (Hilchot Tefilla 1,1). Der nüchterne Rationalist Rambam leitet also die Verpflichtung des Betens selbstverständlich von der Tora ab. Er legt den Vers so aus, dass das »Dienen« dem »Beten« entspricht, da ferner in der Tora zu lesen ist: »Wenn ihr dem Ewigen … mit ganzem Herzen und mit ganzer Seele dienet ...« (5. Buch Mose 11,13). Unsere Weisen äußerten schon vor ihm, im Midrasch, die Meinung, dass hier der »Dienst des Herzens«, das Gebet, gemeint ist.

Motivation Der Ramban, Nachmanides (1194–1270), der berühmte Gelehrte aus Spanien, wendet eine Generation später ein, das Gebet sei seiner Meinung nach eine rabbinische (also nachbiblische) Anordnung und könne nicht als gesetzmäßige Verpflichtung angesehen werden. Jedoch verbirgt die g’ttliche Gnade des Schöpfers, der ständig über uns waltet und all unser Flehen erhört, die Verpflichtung, Ihm mit Kawana, mit Hingabe, zu dienen. Somit wäre das mit voller Motivation gesprochene Gebet eine Antwort der Liebe auf die Liebe und Gnade des Schöpfers. Nur damit könne der Mensch der Aufforderung der Tora »Liebe den Herrn mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele!« nachkommen.

Mit der besonderen Betonung des Motiviertseins wollen die Gelehrten verhindern, dass aus dem Gebet eine leere, inhaltslose Pflichtübung wird. »Wer betet, richte sein Herz gen Himmel«, also hin zu G’tt. Als Hinweis dafür dient das Psalmwort: »Du festigst ihr Herz, Du hörst auf sie« (10,17). Der volkstümliche Kommentator Raschi (1040–1105) deutete den Psalmvers: »Wenn ihr Herz verstärkt ist, dann erhörst Du sie.«

hingabe
Es entspricht dem Wesen des rabbinischen Judentums, dass selbst die Erläuterung der Kawana, der Motivation, von Maimonides kodifiziert wird: »Wie ist die Kawana, die Hingabe, zu verstehen? Dass er sein Herz von jeglichen anderweitigen Gedanken abwende und sich betrachte, als stünde er vor der Schechina, der Glorie G’ttes« (Hilchot Tefilla 4,16).

Unser jüdischer Weg zum inneren Bewusstsein beginnt mit Kawana. Unser meditatives Leben als Juden kann ohne Kawana nicht vollkommen sein, denn sie ist wie das Lenkrad aller inneren Bewusstseinsarbeit. Unsere innere Suche nach Kawana mag zunächst befriedigt werden durch einen kurzzeitigen Auftrieb von ehrlich gemeinter Absicht. Letztlich aber wollen wir diejenigen sein, die sich durch Kawana verändern und erneuern.