Frankfurt

Marbachweg 307

Inge Strauss auf ihrem Balkon Foto: Astrid Ludwig

Die Birke vor dem Küchenfenster hat ihre Blätter bereits an den Winter verloren. »Der Baum stand schon zu Annes Zeiten im Garten«, sagt Ingeborg Strauss. Da war die Birke noch klein, jetzt ist sie groß und der Stamm stattlich. Fast zu stattlich. Ein paar der ausladenden Zweige mussten schon gekappt werden. »Der Baum bleibt, der ist tabu«, betont die 83-Jährige, die alle nur Inge nennen.

Sie ist zierlich, fast zerbrechlich, keine 1,60 Meter groß. Eine alte Dame mit gewählter Ausdrucksweise. Inge Strauss sitzt in der Küche, vor sich ein spätes Frühstück. Die Birke ist ihr Liebling. »Ich beobachte die Vögel darin und die Eichhörnchen.« Auf dem Tisch steht das gerahmte Foto ihres Lebensgefährten. Seit seinem Tod brennt immer eine Kerze vor dem Bild.

Erinnerungen Am Küchenfenster, mit Blick auf die Birke, kann Inge Strauss ihren Gedanken an die Verstorbenen nachhängen. An die, die erst unlängst gingen, und die, die vor langer Zeit aus dem Leben gerissen wurden. Hier, im ersten Stock des Hauses 307 im Frankfurter Marbachweg, bewahrt die 83-Jährige sorgsam die Erinnerungen.

Seit fast 60 Jahren lebt Inge Strauss in der Vier-Zimmer-Wohnung, in der Anne Frank die ersten zweieinhalb Jahre ihres Lebens verbrachte. Bis Ende 1931 hat das kleine Mädchen mit dem dunklen Pagenkopf im Garten unter der Birke mit den Nachbarskindern gespielt, hat mit der Familie am Küchentisch gesessen oder brav in der guten Stube, wenn Gäste kamen. Durch ihr Tagebuch, das sie an ihrem 13. Geburtstag begann, wurde Anne Frank später weltberühmt.

Die Zeit scheint bei Inge Strauss eine Verschnaufpause einzulegen, eine Rast vom steten Davoneilen. Es ist still, nicht einmal eine Uhr tickt. Alles ist noch so wie damals, als die Franks hier lebten. Die weißblauen Kacheln in der Küche, der verschnörkelte Lichtschalter im Flur, die alten Fenster im »Damenzimmer« oder die Badewanne, in der die kleine Anne geplanscht hat. »Mein Museum«, scherzt Inge Strauss, und ein wenig ist die Atmosphäre tatsächlich so.

Wo die Franks früher die Gesellschaftsräume hatten, hat die alte Dame allerdings ihr Schlafzimmer eingerichtet. Im Damenzimmer befand sich die kleine Praxis ihres verstorbenen ersten Mannes, einem Chirurgen. Ein altes Medizinschränkchen an der Wand und eine Waage zeugen noch davon. »Anne und ihre Schwester schliefen ein Stockwerk höher, in den Mädchenzimmern«, erzählt die 83-Jährige. Die Etage ist heute vermietet.

FRANKFURT »Meine Schwester Margot wurde 1926 in Frankfurt am Main geboren. Am 12. Juni 1929 folgte ich«, schrieb Anne in ihrem Tagebuch. Inge Strauss blättert in alten Fotos. Eines zeigt Anne auf dem Schoß der Hebamme auf dem Balkon im Marbachweg. Das muss unmittelbar nach der Geburt gewesen sein. Den Balkon und den Blick in den Garten hat Annes Mutter Edith geliebt. Die Zeit im Marbachweg beschreibt sie in ihren Erinnerungen »als mit die schönsten«. Die Vergangenheit ist nur eine Handbewegung entfernt. Die 83-Jährige öffnet die Tür zu dem geräumigen Balkon, tritt hinaus. Genau an dieser Stelle wurde das Foto aufgenommen – vor 84 Jahren.

Wie ist das Leben in einer Wohnung, deren Vormieter flohen, verraten und ermordet wurden? Anne starb im März 1945 im KZ Bergen-Belsen. »Als ich mit meinem Mann 1954 die Wohnung mietete, wusste ich nicht, wer hier vorher gewohnt hatte«, erinnert sich Inge Strauss. Das erfuhr sie erst von dem Sohn des früheren Hausbesitzers, der im Erdgeschoss lebte und als Kind mit der kleinen Anne im Garten gespielt hatte. »Er hat sie sehr gemocht und nett von ihr gesprochen«, erzählt die alte Dame. Der damalige Hausbesitzer war Mitglied der NSDAP, Grund dafür, warum die Familie Frank Ende 1931 in die nahe Ganghoferstraße umzog.

Nachmieterin Inge Strauss wurde als Jugendliche selbst vertrieben. Sie stammt aus Oberschlesien, flüchtete als 14-Jährige in den Kriegswirren allein und mit gefälschten Papieren aus dem Osten in die Rhön. In Hof wurde sie entdeckt und verhaftet. Acht Tage lang verbrachte sie mit anderen Häftlingen in einer engen Zelle, ein traumatisches Erlebnis. Menschenansammlungen und enge Räume lösen bei ihr noch heute Beklemmung aus. »Seither habe ich einen großen Freiheitswillen und Drang zur Rebellion«, sagt sie. Wohl mit ein Grund, dass es ihr so wichtig ist, Annes Andenken in Frankfurt zu bewahren. Sie sammelt alles, was mit ihr und dem Marbachweg zu tun hat. Sie steht in Kontakt mit dem Museum in Amsterdam, und auch Buddy Elias, Anne Franks Cousin, hat Inge Strauss in ihrer Wohnung besucht.

»Einmal wird dieser schreckliche Krieg doch vorbeigehen, einmal werden wir doch wieder Menschen und nicht alle Juden sein.« Dieses Zitat aus Annes Tagebuch steht auf der Gedenktafel, die seit 2009 auf dem Bürgersteig vor dem Haus 307 an den Wohnort der Franks erinnert.

besucher Doch Inge Strauss ist schon Jahrzehnte früher zu einer Botschafterin geworden. Anfang der 60er-Jahre, erinnert sie sich, nahm eine Collegestudentin aus Indiana in den USA Briefkontakt zu ihr auf. Anne Harvey, so hieß sie, forschte über Anne Frank und wollte gerne die Wohnung sehen. »Und eines Tages stand sie tatsächlich vor unserer Tür«, erzählt die alte Dame. Sie war die erste Besucherin aus dem Ausland. Jahre danach hielten sie noch Briefkontakt.

Anne Harvey sollten viele folgen. Erst kamen die Schulen, dann die Touristen und ganze Busladungen japanischer Besucher. Inge Strauss führte sie in kleinen Gruppen durch die Zimmer. »Sie haben al les fotografiert: die Fliesen, die Badewanne, selbst die Toilette«, erzählt sie. Dann folgten ausländische Reporter, Fernsehteams. Inge Strauss hielt Vorträge, sprach in Schulen, besuchte Schulklassen. Es gibt Fotos ihrer Wohnung in Japan und den USA, »eine japanische Schulklasse hat mir zu Ehren sogar eine Rose gepflanzt«, erzählt sie gerührt.

freunde Die Reaktionen sind nicht immer positiv. Inge Strauss erhält auch Drohanrufe von Rechten. Doch die zierliche Frau lässt sich nicht einschüchtern. Darin wurde sie von ihrem ersten Ehemann, einem engagierten Antifaschisten, und auch von Alfred Schmidt, ihrem späteren Lebensgefährten, bestärkt. Schmidt war Professor für Philosophie und Soziologie, Schüler von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Als Vertreter der kritischen Theorie der Frankfurter Schule wurde er 1972 Nachfolger von Jürgen Habermas auf dem Lehrstuhl, den zuvor Horkheimer innehatte. Inge Strauss hat sie alle gekannt. Sie ist eine viel belesene, sozial engagierte Frau. Als Gasthörerin saß sie oft in den Germanistik- oder Philosophie-Vorlesungen an der Goethe-Universität.

Heute kommen noch immer Anfragen für Wohnungsbesichtigungen, ein paar wenige lässt die alte Dame noch zu. Sie müsse sich schließlich um das Andenken von Anne kümmern, sagt sie – und blickt auf die Birke vor ihrem Küchenfenster.

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