Erinnerung

Stolpersteine und Videos

Die Emser Straße in Berlin-Wilmersdorf: Wo einmal das Haus mit der Nummer 37 stand, ist jetzt eine Lücke. Hier wohnte Cora Berliner, von 1930 bis 1933 Professorin für Wirtschaftswissenschaften in Berlin, dann aus dem Staatsdienst entlassen und Leiterin der Auswanderungsabteilung in der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland. Ein junger Lehrling setzt einen Stolperstein mit ihrem Namen ins Pflaster. Zehn Minuten dauert die Prozedur. Am Ende nimmt der Lehrling ein feuchtes Tuch und wischt die Messingoberfläche des kleinen Stolpersteins sauber.

max-planck-gymnasium 25 Schülerinnen und Schüler des Max-Planck-Gymnasiums in Berlin-Mitte haben das Geschehen beobachtet. Es ist ihre Initiative gewesen, mithilfe des Stolpersteins an Cora Berliner zu erinnern.

Ein paar Jugendliche legen weiße Rosen neben den Stolperstein, ihr Lehrer Christoph Hummel hält sich dezent im Hintergrund. Seit zwölf Jahren beteiligt er sich mit seinen Schülern an dem Stolperstein-Projekt. Das, sagt Hummel, sei der beste Zugang, Erinnerungsarbeit zu leisten: »Für unsere Schüler liegt das so weit weg, diese Zeit, es ist wirklich eine große Distanz da. Man muss auch aufpassen, dass man dieses Thema nicht überstrapaziert. Auf der anderen Seite ist mir unheimlich wichtig, dass es nicht vergessen wird. Und über diese Biografien, über das Erarbeiten, habe ich erreicht, dass die Schüler sich wirklich der Problematik annehmen.«

Die Schüler bestätigen das: Wenn man sich mit den Biografien der Opfer beschäftige, könne man sich auch viel leichter mit ihrem Schicksal identifizieren: »Es ist ein schöner Ausgleich zu dem faden Unterrichtsstoff, den man eigentlich hat«, meint die 15-jährige Ida. Ihr Klassenkamerad Ilias ergänzt: »Das darf nicht in Vergessenheit geraten. Es ist gut, dass wir das machen. Unsere Pflicht sozusagen.«

Wenn diese Pflicht jedoch zum ewig gleichen Gedenkritual wird, ist möglicherweise wenig erreicht. Bei einer Umfrage von TNS Infratest vor drei Jahren gaben 43 Prozent der Schüler in Deutschland an, es werde von ihnen erwartet, dass sie auf jeden Fall Betroffenheit zeigten über die Opferschicksale. Vier von fünf Schülern gaben aber auch an, dass sie Erinnern und Gedenken für sinnvoll hielten. Einer jüngeren Untersuchung der Freien Universität Berlin zufolge weiß nur knapp die Hälfte aller Schüler, dass der NS-Staat eine Diktatur war.

themenjahr Berlin erinnert in diesem Jahr an die einstige, vom NS-Regime brutal zerstörte Vielfalt der Stadt. Zwei Daten bilden den historischen Rahmen dafür: der 80. Jahrestag der Machtübergabe an die Nationalsozialisten am 30. Januar 1933 und der 75. Jahrestag der Pogrome im November 1938. »Zerstörte Vielfalt« ist der Titel des Themenjahres, das in diesen Wochen zu Ende geht. Im gesamten Stadtraum konnte man erkunden, wie systematisch die Nationalsozialisten die Brillanz und Kreativität Berlins in den zwölf Jahren ihrer Macht zerstörten. Besonders auffällig die zahlreichen Säulen, auf denen großformatige Porträts die Biografien von mehr als 200 Menschen erzählen, die in den 20er- und 30er-Jahren die Vielfalt Berlins mitprägten und die von den Nationalsozialisten vertrieben oder ermordet wurden.

Mitten im schick sanierten Kiez rund um den Hackeschen Markt gibt es einen besonderen Erinnerungsort: das Museum Blindenwerkstatt Otto Weidt. Hier betrieb Otto Weidt während des Zweiten Weltkriegs eine Besen- und Bürstenbinderei. Der Kleinfabrikant beschäftigte überwiegend blinde und gehörlose Juden, viele von ihnen beschützte er vor den Deportationen durch die Nazis.

Von 1941 bis 1943 arbeitete auch Inge Deutschkron für Otto Weidt. Sie und ihre Mutter überlebten den Holocaust, weil Freunde sie versteckten. Später schrieb sie ihre Lebensgeschichte nieder in dem Buch Ich trug den gelben Stern. Am 30. Januar 2013 hielt sie im Deutschen Bundestag die Rede zum Holocaust-Gedenktag.

paula-fürst-schule Inge Deutschkron gehört zu den wenigen Überlebenden, die immer noch regelmäßig über die Erlebnisse von damals berichten. Zum Beispiel vor Fünft- und Sechstklässlern der Paula-Fürst-Schule aus Charlottenburg. Sie erzählt ihnen von den aberwitzigen Gesetzen und Vorschriften, nach denen die Juden in der Nazizeit leben mussten, und von ihrem Vater, der rechtzeitig nach London floh, sie aber nicht mitnehmen konnte, weil er dafür in England eine Bankbürgschaft hätte hinterlegen müssen. Die zehn- und elfjährigen Kinder fragen der 91-jährigen alten Dame Löcher in den Bauch. Über eine Stunde lang. Und Inge Deutschkron antwortet. Geduldig.

»Wie haben Sie es geschafft, dass die Nazis sie nicht gefunden haben?« »Unsere Freunde haben gute Verstecke für uns gehabt. Natürlich: Diese Verstecke waren keine besonders schönen Häuser, Luxuswohnungen oder so etwas Ähnliches. Zum Beispiel das letzte Versteck, das wir hatten und das ich sehr liebte, war in Potsdam ein ehemaliger Ziegenstall.« »Hatten Sie auch ein Tagebuch geschrieben?« »Nein, das war viel zu gefährlich. Stell dir mal vor, die Nazis finden mich. Und finden da ein Tagebuch, wo ich schildere, bei wem ich alles war und wer unsere Freunde sind. Das war zu gefährlich, verstehst du das?«

»Gab es auch schöne Tage im Krieg?« »Nein. Es gab keine schönen Tage im Krieg. Stell dir das mal bitte vor, dass du ständig Angst haben musst, dass du abgeholt wirst und in irgendeinen schrecklichen Zug hinein getan, oder in einen Viehwaggon, mit anderen Leuten zusammen, und du weißt gar nicht, wohin dieser Zug fährt. Und du weißt auch gar nicht, was da passiert, wo man ankommt. Ich habe eine ganze Familie verloren: 18 Personen. Sind alle in Auschwitz und Treblinka ermordet worden. Alle. Aber da bin ich nicht allein. Das ist sehr vielen jüdischen Menschen passiert, die gefangen wurden.«

ruth-cohn-schule Karin Weimann unterrichtete 35 Jahre lang an der Ruth-Cohn-Schule in Charlottenburg. Ihr war es immer wichtig, den 27. Januar, den offiziellen Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus, auch in ihrer Schule feierlich zu begehen. Sie motivierte das Kollegium, stellte Kontakt zu Überlebenden her und organisierte im Laufe der Jahre immer mehr schulische Arbeitsgruppen. 30 bis 35 sind es mittlerweile, sie alle beschäftigen sich an diesem einen Tag, dem 27. Januar, mit den Schicksalen der Opfergruppen. Die Haltung der Jugendlichen dazu sei ambivalent, sagt Karin Weimann. »Es gibt viel Berührung, es gibt Gleichgültigkeit, es gibt Äußerungen des Überdrusses, es gibt auch manchmal ärgerliche Kommentare über den Gast.«

Karin Weimann hat über ihre Erfahrungen mit der Erinnerungsarbeit ein Buch geschrieben: Sisyphos’ Erbe. Von der Möglichkeit schulischen Gedenkens. Bei aller Kritik, die sie hat, wehrt sie sich gegen die Schlussstrich-Mentalität. Der 27. Januar, der Tag der Befreiung von Auschwitz, müsse weiter ein Tag der aktiven Erinnerung sein. Überall. Nicht nur an ihrer ehemaligen Schule. »Das ist ein Ritual, keine Frage. Aber es gibt solche und solche Rituale. Und was ganz wichtig ist: Das geschieht nicht nur aus einer Haltung politischer Korrektheit heraus, das wäre mir viel zu vordergründig. Ein großes Wort: Es dient der Menschwerdung der jungen Leute, die haben einen ungeheuren Gewinn, wenn sie es denn annehmen können. Entscheidend sind natürlich die engagierten Lehrerinnen und Lehrer. Da bedarf es gar nicht eines ganzen Kollegiums, aber zwei, drei müssen schon innerlich brennen dafür.«

website Zu den Projekten des Berliner Themenjahrs gehört auch die Website www.unserevielfalt.de. »Stell dir vor, plötzlich wird verboten, was dir wichtig ist«: Mit Gedankenspielen dieser Art wurden Jugendliche animiert, kurze Videoclips und Statements ins Netz zu stellen. Beate Tast-Kasper von »Kulturprojekte Berlin« hat die Site mitinitiiert: »Was wäre zum Beispiel, wenn man dir verbieten würde, zur Schule zu gehen? Da haben ganz viele erst mal geschrieben: ›Juhu, haben wir auch keine Lust‹«, berichtet sie. »Aber wenn die Jugendlichen dann erfahren, dass es 1942 Jüdinnen und Juden verboten war, öffentliche Schulen zu besuchen, da ist dann ein Erstaunen und ein Innehalten. So haben wir versucht, eben diese Brücken mit verschiedenen provokanten Aussagen zu schlagen wie ›Du darfst deine Musik nicht mehr hören‹, ›Du darfst dein Haustier nicht mehr haben‹, ›Du darfst nicht mehr Fußball spielen‹ und so weiter. Daraus sind letztendlich diese Filme entstanden.«

3000 Clips sind es geworden, vom einfachen Statement bis zum künstlerisch ambitionierten Musikvideo. Das Motto lautete: »Unsere Vielfalt nimmt uns keiner mehr.« Am kommenden Sonntag, 75 Jahre nach den Pogromen, findet am Brandenburger Tor eine Art Public Viewing statt. Nach Einbruch der Dunkelheit werden die 3000 Statements, Kurzfilme und Handyclips, die im Rahmen des Projekts entstanden sind, öffentlich präsentiert. Die Botschaft ist eindeutig: »Mit uns nie wieder«.

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