Identität

Das Mutterprinzip

Foto: imago/blickwinkel

Man sollte meinen, Frauen spielten eine bedeutende Rolle im Judentum, denn die jüdische Identität wird traditionell über die Mütter an ihre Kinder weitergegeben. Dies war aber nicht immer so. Es könnte also durchaus sein, dass Frauen im Judentum nicht ganz so wichtig sind, wie es heute den Anschein hat.

Zwar bestimmt der Mainstream des Judentums die jüdische Identität eines Kindes durch die Geburt von einer jüdischen Mutter. Diese halachische Regel folgt einer alten Tradition, die auf die Mischna zurückgeht – ist aber im Nachhinein insofern überraschend, als die weibliche Eizelle und damit der Beitrag von Frauen bei der Entstehung neuen Lebens in der Antike völlig unbekannt war und erst im 19. Jahrhundert entdeckt wurde. Die Identitätsbestimmung über die väterliche Linie wäre daher im zeitlichen Kontext also die biologisch naheliegende Lösung gewesen.

SAMEN Der griechische Philosoph Aischylos (525-456) bringt das antike biologische Wissen folgendermaßen auf den Punkt: »Die Frau, die man die Mutter des Kindes nennt, ist keine Erzeugerin: Sie ist lediglich die Amme für den Samen, der in sie hineingegeben wurde. Der Mann, der sie fruchtbar gemacht hat, ist der Erzeuger, sie eine Fremde, die den jungen Keim beschützt« (Eumenides 658–661).

Vor diesem Hintergrund können wir das große Problem nachvollziehen, das die klassischen Kommentatoren mit dem Beginn des Wochenabschnitts Tasria (3. Buch Mose 12,1 – 13,59) hatten. Das Wort bedeutet: »Sie bringt Samen hervor«, und man musste kreative Wege finden, diese damals biologisch falsch erscheinende Aussage zu verstehen.

heirat In der Tora – wie auch in allen anderen Teilen der Bibel sowie in den nachbiblischen Schriften bis ins 2. Jahrhundert hinein – wird die Zugehörigkeit zum Volk Israel über die väterliche Abstammungslinie definiert. Lange Zeit störte es niemanden, dass Mosche eine Midianiterin heiratete, Josef eine Ägypterin, König David eine Philisterin, um nur einige zu nennen.

In den biblischen Abstammungslisten (wie im 1. Buch Mose 5 und 10) werden Individuen stets als Söhne oder Töchter ihres Vaters definiert. Erst die Rabbinen, Hunderte von Jahren später, erklärten, dass alle diese Frauen vor der Heirat zum Judentum konvertierten. Die Tora selbst weiß davon noch nichts.

Das Prinzip, dass eine Gruppe sich über die mütterliche Abstammungslinie definiert, nennt man »matrilinear«. Das Wort kommt vom lateinischen »mater« (Mutter) und »linea« (Faden, Linie). Das Gegenteil ist »patrilinear« – von »pater« (Vater). Wann und warum kam es im Judentum zur Matrilinearität – dieser völlig überraschenden Abweichung von der Tradition der Tora?

VERGEWALTIGUNG Häufig hört man, das System sei geändert worden, weil jüdische Frauen zur Zeit der römisch-jüdischen Kriege 66–70 und 132–135 von siegreichen römischen Soldaten vergewaltigt wurden und man die Vaterschaft der Kinder nicht feststellen konnte. Doch diese verbreitete Meinung lässt sich wissenschaftlich nicht halten.

Die Mischna (um 200) erklärt Kinder eines nichtjüdischen Vaters und einer jüdischen Mutter zu Mamserim, »Kinder aus illegalen« Beziehungen (Jebamot 7,5). Solche Mamserim galten zwar als jüdisch, durften aber niemanden heiraten – mit Ausnahme anderer Mamserim. Dies war sicherlich kein Trost für Mütter nach einer Vergewaltigung.

Außerdem bleibt die Frage offen, warum das gesamte System geändert wurde und gleichzeitig die väterliche Linie generell abgeschafft wurde, was ja nicht nötig gewesen wäre. Manchmal hört man auch die Ansicht, die Matrilinearität sei eingeführt worden, weil die Beziehung zwischen Mutter und Kind emotional enger sei als zwischen Vater und Kind, und weil das Kind eher die Religion der Mutter übernehme.

Doch auch dies ist wissenschaftlich unhaltbar, denn in der Antike zogen weder Juden noch Nichtjuden aus der Intimität der Mutterschaft rechtliche Schlüsse. Bei Scheidungen wurden die Kinder in die Obhut des Vaters gegeben; erst modernes Recht ist hier differenzierter. Einige behaupten, Esra (5. Jahrhundert) habe die Matrilinearität eingeführt. Doch liest man die biblischen Bücher Esra und Nehemia genauer, findet man lediglich, dass Esra nichtjüdische Frauen und Kinder des Landes verwies, aber nicht, dass er eine Regelung aufstellte (Esra 9,12; 10, 2–3).

quelle Die erste Quelle für Matrilinearität im Judentum ist die Mischna Kidduschin 3,12. Im Zusammenhang geht es hier um die rechtliche Gültigkeit von Eheschließungen, vergleichbar mit ähnlichen Regelungen im römischen Recht jener Zeit zu Ehen zwischen Personen mit römischem Bürgerrecht und solchen ohne.

In der Mischna heißt es über die jüdische Rechtslage: »In jedem Fall, wo eine Antrauung (Kidduschin) rechtlich möglich ist und keine Übertretung begangen wurde, folgt das Kind dem Mann. Und wann ist das? Sofern eine Priesterin (Kohenet), eine Levitin (Levijah) oder eine Israelitin einen Priester, einen Leviten oder einen Israeliten heiratet. In jedem Fall, wo eine Antrauung rechtlich möglich ist, aber eine Übertretung begangen wurde, folgt das Kind dem bemakelten Elternteil (wenn zum Beispiel eine Mamseret, ein Mädchen aus einer illegalen Beziehung, einen Juden mit dem Status »Israel« heiratet).

In jedem Fall, wo ihre Antrauung rechtlich mit diesem unmöglich ist, mit einem anderen aber möglich gewesen wäre, ist das Kind ein Mamser (wie bei Inzest.) In jedem Fall, wo ihre Antrauung mit diesem rechtlich unmöglich ist, aber auch mit jedem anderen nicht gestattet wäre, folgt das Kind ihr. Dies ist der Fall beim Kind einer Sklavin (schifcha) oder einer Nichtjüdin (nochrit).«

Auslegung Die Mischna führt hier neue Prinzipien ein, die der Tora fremd waren, zum Beispiel, dass eine Ehe rechtlich gültig sein kann oder nicht, und dass die Nachkommen nach der mütterlichen Linie definiert werden können. Der Talmud, einige Zeit später, versucht, die Mischna zu verstehen und vor allem auch, ihre Bestimmungen auf die Tora zurückzuführen. Dies geschah mithilfe einer bestimmten Weise der Schriftauslegung.

Das matrilineare Prinzip meinte man im 5. Buch Mose 7,4 finden zu können: »Wir wissen nun, dass die Antrauung mit ihr ungültig ist, woher aber, dass das Kind ihr gleiche? Rabbi Jochanan erwiderte im Namen Rabbi Schimon ben Jochais: Die Schrift sagt: ›denn er würde deinen Sohn von mir wegführen‹ (5. Buch Mose 7,4); dein Sohn von einer Israelitin heißt ›dein Sohn‹, dein Sohn von einer Nichtjüdin heißt aber nicht ›dein Sohn‹, gilt also offenbar nicht als ihr Sohn« (Kidduschin 68b).

Indem die Tora das Kind der jüdischen Frau explizit »dein Sohn« nennt, obwohl der Vater kanaanäisch ist, weist sie offenbar besonders auf diesen Sachverhalt hin, während sie über den umgekehrten Fall eines jüdischen Mannes und einer kanaanäischen Frau schweigt – und aus diesem Schweigen ziehen die Rabbinen ihre Schlüsse. Nachdem das matrilineare Prinzip existierte, konnte man es in die Tora hineinlesen; der wörtliche Sinn des Textes beschreibt jedoch lediglich die Gefahr des Götzendienstes im Fall einer Mischehe mit Kanaanäern.

Konversion Keine Quelle erklärt, wieso das Prinzip geändert wurde. Man kann es daher nur vermuten. Vielleicht hängt es mit der aufkommenden Möglichkeit der Konversion zum Judentum in der hellenistisch-römischen Zeit zusammen. Bis zur Zeit der Makkabäer (2. Jahrhundert) waren Konversionen, wie wir sie verstehen, nicht möglich, denn man definierte seine Zugehörigkeit ethnisch: Man war Judäer oder Ägypter und blieb es, solange man in einer bestimmten Gegend lebte.

Erst die Griechen änderten dies. Zum ersten Mal in der Geschichte wurde Zugehörigkeit nicht mehr nur durch biologische Abstammung definiert, sondern auch durch eine gemeinsame Sprache, eine gemeinsame Religion und einen gemeinsamen Lebensstil. Jeder »Barbare« konnte »Grieche« werden, wenn er die griechische Kultur und Religion übernahm.
Nun ist es aber nicht nur möglich, dass Juden »Griechen«, sondern auch umgekehrt, dass »Griechen« (und andere) »Juden« werden; zunächst galt das jedoch nur für Männer.

Beschneidung Die Bedingung für eine solche Konversion wurde die Beschneidung. Frauen wurden automatisch jüdisch durch Heirat und ihr Hineinkommen in den Haushalt des jüdischen Mannes. Allmählich aber führte man auch die Konversion von Frauen ein. Ihre Bedingung wurde das Tauchbad (Tevilla).

Jetzt entstand die neue Situation, dass ein jüdischer Mann eine nichtjüdische Frau heiraten konnte, ohne dass dies automatisch den Status der Frau änderte. Wenn aber umgekehrt eine jüdische Frau einen Nichtjuden heiratete, waren nach der bisherigen Regelung die Kinder einer solchen Ehe nicht jüdisch, es sei denn, der Mann konvertierte; das heißt, er ließ sich beschneiden.

Wie viel einfacher musste es da erscheinen, die Identität des Kindes nach der Mutter zu bestimmen, denn die Bedingung für die Konversion der Frauen war ja lediglich das Tauchbad! Wollte man möglichst viele Menschen innerhalb des Judentums halten, musste man also die Regelung ändern.

Änderung Welch großes Problem die Frage der Beschneidung in der hellenistisch-römischen Zeit war, zeigt übrigens das Neue Testament. Die ersten Anhänger des Christentums waren überwiegend Nichtjuden, die regelmäßig Synagogen besuchten, sich aber nicht beschneiden lassen wollten – und so passte es gut, dass Paulus meinte: Ihr braucht es auch gar nicht.

Die Rabbinen reagierten auf die damalige neue kulturelle und soziale Situation anders, indem sie das Grundprinzip jüdischer Identität änderten. Seit der römischen Zeit, also seit der Mischna, definiert man nun Jüdischsein über die Mutter – bis auf den heutigen Tag.

Die Autorin ist Dozentin für jüdische Liturgie am Leo Baeck College London.

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