Literatur

»Ich bin ein jüdischer Calvinist«

»Ich habe keine Kinder. Deshalb bleibt mir Zeit zu schreiben«: Arnon Grünberg Foto: dpa

Herr Grünberg, Sie sind Niederländer, Jude und leben in den USA. Wie definieren Sie sich? Als niederländischer, als amerikanischer oder als jüdischer Autor? Oder denken Sie gar nicht in solchen Kategorien?
Ich habe einmal gesagt, dass ich mich erst in den USA so richtig als Europäer gefühlt habe. Mir wurde bewusst, dass ich kein Amerikaner bin und auch nie einer sein würde. Ich schreibe auf Holländisch, und ich bin in Amsterdam aufgewachsen. Meine Eltern sind aber nicht in Holland geboren und haben sich auch niemals holländisch gefühlt. Für mich war meine Identität nie festgelegt. Das war wie Wasser. Das konnte überall hinfließen. Der jüdische Hintergrund spielt mit Sicherheit eine Rolle, aber ich würde mich nicht als jüdischen Schriftsteller bezeichnen. Das ist für mich eher ein zweites oder drittes Attribut.

Sie schreiben nach fast 20 Jahren in den USA immer noch auf Niederländisch?
Irgendwie traue ich mich immer noch nicht, auf Englisch zu schreiben. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich die Sprache genauso beherrsche wie Holländisch. Es ist auch nicht so, dass ich denke, dass ich erst, wenn ich auf Englisch meine Bücher schreibe, ein vollwertiger Schriftsteller bin. Ich habe einen sehr guten englischen Übersetzer. Man sollte den Übersetzern nicht ihre Arbeit wegnehmen.

Ihr neuer Roman »Mit Haut und Haaren« ist dieses Jahr deutsch bei Diogenes erschienen. Worum geht es darin – in aller Kürze?
Das ist immer die schwierigste Frage, die jemand stellen kann: das in einem Satz zusammenzufassen. Es geht mir um die Ökonomisierung der Liebe, um die Ökonomisierung von Beziehungen und auch um die Frage, inwiefern der Mensch seinen Gefühlen trauen kann. Ich wollte ein Buch über einen Ökonomen schreiben und der Rest kam einfach dazu.

Der Held des Buchs, Roland Oberstein, ist ein Wirtschaftsdozent, der mehrere Frauen braucht, um glücklich zu sein.
Beziehungen interessieren, glaube ich, jeden Romanschriftsteller. Ich fand es interessant, wie ein Netzwerk von Beziehungen, von Bekanntschaften, neue Beziehungen hervorbringt. Wie man sich von diesem Netz nicht lösen kann, wie man darin gefangen ist.

Sie leben in New York. Hatten Sie die Wall-Street-Banker, die Sie täglich sehen, vor Augen, als Sie die Figur entwickelt haben?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen einem Dozenten, der Wirtschaft lehrt, wie Oberstein, und den Wall-Street-Typen. Ich war mehr an einem Wirtschaftswissenschaftler interessiert – und für die sind die Wall-Street-Leute nicht seriös. Das Image der Broker ist viel vulgärer, viel härter als das des Oberstein in meinem Buch.

Hätten Sie dieses Buch schreiben können, wenn Sie in Europa geblieben wären? Es geht darin um die Unfähigkeit, sich auf andere einzulassen. Ist diese Unfähigkeit nicht in amerikanischen Großstädten besonders ausgeprägt?
Ich glaube nicht, dass das ein amerikanisches Problem ist. Das Problem besteht auch in Europa. In gewisser Weise hat es geholfen, dass ich in Amerika lebe, um das Buch zu schreiben, auch um eine amerikanische Uni beschreiben zu können. Aber ich denke, dass die Großstädte – egal, ob das Hongkong, Buenos Aires, Sao Paulo oder New York ist – sich immer mehr ähneln. Der wirkliche Unterschied besteht zwischen der Großstadt und ländlichen Gebieten, wo die Menschen wirklich ganz anders leben. Man kann genauso wenig New York mit einem Dorf in Texas vergleichen wie Berlin mit einem Dorf in Oberbayern.

Kritiker nennen Sie in einem Atemzug mit Philip Roth und John Irving, sogar mit Woody Allen. Fühlen Sie sich geschmeichelt? Oder nervt das eher?
Beides. Ich werde auch gern mit Michel Houellebecq, dem französischen Autor, verglichen. Ich mag Philip Roth und auch John Irving. Aber es kann natürlich nerven, wenn man solche Vergleiche zu oft hört. Der Bezug zu Woody Allen nervt mich fast noch mehr. Er macht Filme. Ich hingegen schreibe Bücher. Der Vergleich hinkt also.

Sie sind ein Vielschreiber. Im Schnitt erscheint von Ihnen pro Jahr mindestens ein Buch. Wie schaffen Sie das?
Es hilft, dass ich keine Kinder habe. Sonst hätte ich viel weniger Zeit. Ich habe ein Patenkind und weiß daher, wie viel Zeit es kostet, ein Kind aufzuziehen. Diese Zeit verwende ich aufs Schreiben. Es macht mir auch Spaß, so banal es klingen mag. Ich bin es gewöhnt, auch am Wochenende drei bis vier Stunden zu arbeiten. Warum nicht? Es ist eine Frage der Disziplin. Wir alle sind eigentlich faul, aber wenn ich mich dem hingeben und bis 10 Uhr schlafen würde, dann würde ich mich schlecht fühlen. Ich muss streng mit mir selbst sein.

Das klingt sehr calvinistisch.
Ich bin zwar in einem jüdischen Elternhaus aufgewachsen, aber in dieser Hinsicht bin ich ein Holländer.

Calvinistisches Arbeitsethos und jüdischer Humor?
(lacht) Ja, genau.

Dazu gehört auch, dass Sie für Ihre Bücher gründlich recherchieren.
Ich bin ja auch Journalist. Ich habe öfter »embedded« gearbeitet und als Kriegsberichterstatter die holländische Armee begleitet. Einmal habe ich über die Menschen in einem holländischen Vorort, einem Neubaugebiet, geschrieben. Ich habe jeden Abend bei einer anderen Familie übernachtet.

Und kürzlich waren Sie mit einer Familie zu Recherchezwecken zwei Wochen im Urlaub.
Auf die Idee kam ich nach der Recherche in dem Neubaugebiet. Ich dachte, vielleicht wäre es schön, gemeinsam mit einer Familie Ferien zu machen und darüber zu schreiben. Auf meinen Aufruf haben sich 30 bis 40 Familien gemeldet. Ich habe mir die interessanteste ausgesucht. Der Urlaub selbst war sehr angenehm. Aber mit dem Stück, das ich dann geschrieben habe, hatte die Mutter Probleme. Es ist eben immer sehr konfrontierend, was ein anderer über dich schreibt.

Arnon Grünberg wurde 1971 in Amsterdam geboren. Seine Eltern stammen aus Berlin und überlebten die Schoa. Nachdem er als »asoziales Element« mit 17 Jahren von der Schule flog, begann Grünberg eine literarische Karriere. Seinen Erstling »Blauer Montag« verfasste er mit Anfang zwanzig. Der Roman wurde in 14 Sprachen übersetzt. Inzwischen sind von Grünberg, der auch unter dem Pseudonym Marek van der Jagt publiziert, mehr als ein Dutzend Bücher erschienen – Romane, Gedichte, Essays und Reportagen. Grünberg arbeitet auch als Journalist, unter anderem mit einer täglichen Kolumne in der Amsterdamer Zeitung »Volkskrant«, einem der auflagenstärksten Blätter der Niederlande. Seit 1995 lebt er in New York.

Sein jüngster Roman »Mit Haut und Haaren« ist auf Deutsch, wie alle seine Bücher, bei Diogenes in Zürich erschienen (622 S., 22,90 €).

Eine kürzere Videoversion des Interviews können Sie bei »Interview Lounge« im Internet sehen.

www.interview-lounge.tv/arnon-grunberg-im-gesprach

Frankfurt am Main

Bildungsstätte Anne Frank zeigt Chancen und Risiken von KI

Mit einem neuen Sammelband will sich die Institution gegen Diskriminierung im digitalen Raum stellen

von Greta Hüllmann  19.04.2024

Kunst

Akademie-Präsidentin gegen Antisemitismus-Klausel

»Wir haben ein gutes Grundgesetz, wir müssen uns nur daran halten«, sagt Jeanine Meerapfel

 19.04.2024

Jehuda Amichai

Poetische Stimme Israels

Vor 100 Jahren wurde der Dichter in Würzburg geboren

von Daniel Staffen-Quandt  19.04.2024

Antisemitismus

Zentralrat der Juden äußert sich zu Hallervordens Gaza-Video

Das Gaza-Gedicht des Schauspielers wurde in den vergangenen Tagen massiv kritisiert

 19.04.2024

Streaming

»Bros«: Zwei Trottel, eine Bar

Die erste rein hebräischsprachige und israelische Original-Produktion für Netflix ist angelaufen

von Ayala Goldmann  18.04.2024

Interview

»Deutschland ist eine neurotische Nation«

Bassam Tibi über verfehlte Migrationspolitik, Kritik an den Moscheeverbänden und Ansätze für islamische Aufklärung

von Christoph Schmidt  18.04.2024

Verschwörungstheorien

Nach viel kritisiertem Israel-Hass-Video: Jetzt spricht Dieter Hallervorden

Der Schauspieler weist die Kritik an seiner Veröffentlichung zurück

 18.04.2024

Venedig

Israelhasser demonstrieren bei Kunstbiennale

Die Demonstranten forderten einen Boykott israelischer Künstler

 18.04.2024

Klassik

Eine Liebeserklärung an die Mandoline

Der israelische Musiker Avi Avital verleiht Komponisten wie Bach oder Vivaldi einen unverwechselbaren neuen Touch

von Christine Schmitt  18.04.2024