Umfrage

»Die Tendenz ist beängstigend«

Juden und Deutschland: Die Verunsicherung ist angesichts der judenfeindlichen Ausschreitungen bei Anti-Israel-Kundgebungen so groß wie lange nicht mehr. Foto: Thinkstock

Beschimpfungen wie »Scheißjuden, wir kriegen euch!«, »Wir bringen euch um!« und »Drecksjuden« waren bei Pro-Gaza-Demonstrationen in den vergangenen Wochen keine Seltenheit. Auf deutschen Straßen wurde offener Judenhass gezeigt. Doch nicht nur dort. Fensterscheiben von Synagogen gingen zu Bruch, Brandbomben wurden geworfen, Hassmails an jüdische Gemeinden verschickt. Nicht nur ältere Juden stellen sich – wie vor Kurzem die IKG-Präsidentin in München, Charlotte Knobloch, – die Frage, ob man als Jude noch in Deutschland leben kann. Wir haben hierzu Stimmen gesammelt.

»Es geht mir sehr nahe«
Ich bin sehr angespannt wegen der aktuellen Situation. Das alles geht mir ziemlich nahe. Zum Glück habe ich gerade Urlaub –da kann ich wenigstens eine Woche lang den ganzen Horror ausblenden.
Oren Walter (Pseudonym), 31, Wuppertal

»In Schockstarre«
Die antisemitischen Auswüchse vor dem Hintergrund des Gaza-Kriegs sind ungeheuer schockierend und zutiefst beschämend. Dennoch bin ich fest davon überzeugt, dass Antisemitismus bei der überwältigenden Mehrheit der deutschen Gesellschaft keine Chance hat. Nach einer Schockstarre haben inzwischen – von den Medien flankiert – zahlreiche Menschen ihre Stimme unzweideutig erhoben.
Iris Neu, 54, Saarbrücken

»In relativer Sicherheit«
Ja, wir leben hier in – relativer – Sicherheit. Der Staat schützt und fördert jüdisches Leben in besonderer Weise, auch wenn er in den letzten Tagen daran erinnert werden musste, es mit unserem Schutz sowie der Ahndung antisemitischer Straftaten noch ernster zu nehmen. Vom Staat allein darf unsere Sicherheit allerdings nicht abhängen. Der nötige Selbstschutz der Gemeinden und des Individuums ist mindestens genauso wichtig.
André Levi Israel Ufferfilge, 23, Düsseldorf

»Politiker sind gefordert«
Wir Juden müssen uns wegen der Ereignisse in den vergangenen Wochen Sorgen um unsere Sicherheit machen. Es gibt eine große Gruppe von Menschen, die sich zum Ziel gesetzt haben, jüdisches Leben auszurotten. Diese Menschen haben durch den Gaza-Krieg eine Plattform erhalten, unter dem Schleier der »Israelkritik« ihre antisemitischen Ansichten zu skandieren. Solange die deutsche Politik nicht konsequent gegen jegliche antisemitische Vorfälle vorgeht, wird diese Gruppe nur größer und stärker – und jüdisches Leben in Deutschland nicht mehr möglich sein.
David Bruck, 21, Berlin

»Versagt die Demokratie?«
Zum derzeitigen Zeitpunkt ist das schwer zu beurteilen. Die Berichterstattung wird allgemein immer sehr hysterisch aufgebauscht. Das führt subjektiv zu Angst und Befürchtungen. Und wenn Juden in Deutschland Angst haben müssen, dann ist ein Zeitpunkt erreicht, darüber nachzudenken, ob die Situation wirklich ernst zu nehmen ist und einen Lauf nimmt, der nicht mehr zu stoppen ist. Sollte dies der Fall sein, hat unsere Demokratie versagt. Mehren sich die Vorfälle und gibt es keine Konsequenzen seitens der Regierung, dann sollten wir handeln.
Ilan Mizrahi, 47, Hamburg

»Linke Berichterstattung«
Jüdisches Leben wird in Deutschland unsicherer, vor allem aufgrund der stark wachsenden muslimischen Bevölkerung. Das trauen sich aus falsch verstandener Political Correctness aber viele leider nicht auszusprechen. Durch die überwiegend links und extrem links orientierte Mediendarstellung wird die Lage in Deutschland noch angeheizt, egal ob in Print- oder Onlinezeitungen.
Sergey Rostov, 31, Düsseldorf

»Machtlose Staatsmacht«
Nein. Noch nie haben wir in der BRD erlebt, dass die Staatsmacht so machtlos einem antisemitischen Mob gegenüberstand. Wir sind einem neuen Antisemitismus ausgeliefert, bei dem die Sicherheitsorgane im Dunkeln tappen über die möglichen Präventiv- und Gegenmaßnahmen. Dieser Mob ist ein Angriff nicht nur gegen die Juden, sondern gegen die Rechtsordnung der BRD. Es ist an der Zeit, sich Gedanken zu machen, jüdische Einrichtungen zusätzlich mit eigenen Kräften zu sichern, denn das Vertrauen in die Sicherheitsorgane schwindet jeden Tag, leider.
Ilia Choukhlov, 31, Nürnberg

»Uns fehlt Sicherheit«
Angesichts der deutschlandweiten antiisraelischen Proteste, die rigoros für massive und nicht nur verbale antijüdische Übergriffe genutzt und von der Staatsmacht nicht unterbunden wurden, ist das Gefühl der Sicherheit nicht mehr gegeben.
Natalija Senkow, 50, Berlin

»Alter Judenhass«
»Sicherheit« ist ein uneindeutiger Begriff, der für Juden in Deutschland maßgeblich von der aktuellen Stimmung in der Öffentlichkeit abhängt. Die deutsche Gesellschaft ist da bipolar: Menschen, mit denen man normalerweise ein erbauliches Gespräch führen könnte, verlieren jegliche Selbstbeherrschung, sobald Israel in jeglicher Form militärisch aktiv wird. Ich habe vor zwei Wochen in München an einer spontanen Gegendemonstration am Rande einer (weit größeren) Free-Gaza-Kundgebung teilgenommen und war erstaunt, mit welcher Nonchalance gesittete, gutbürgerliche Deutsche Beleidigungen ausspeien können –dass dieser Antisemitismus »neu« ist, ist mir unvorstellbar. Ganz offensichtlich gibt es Sicherheit für uns nur, wenn diese tief sitzende Wut nicht zutage tritt.
Richard Volkmann, 25, München

»Sofort Koffer packen«
Am liebsten würde ich sofort meine Koffer packen und nach Israel auswandern. Ich bin sozusagen in Alarmbereitschaft. Aber: Ich persönlich war bisher keinen Anfeindungen ausgesetzt. Obwohl ich jetzt bei Facebook zu finden bin und klar ist, wer ich bin und wo ich arbeite. Und obwohl ich weiterhin mit Magen David um den Hals im arabischen Supermarkt einkaufen gehe. Das mag an Flensburg liegen, denn von Freunden in Kiel höre ich leider anderes. Meine Kinder würde ich mit Kippa nicht auf die Straße schicken – und das ist unendlich traurig.
Keren Först-Hädicke, 44, Flensburg

»Ich beobachte genau«
Meine Koffer sind noch lange nicht gepackt, aber ich beobachte sehr genau, was hier (und in Europa) passiert. Ich bekomme viel Zuspruch aus meinem direkten Umfeld. Was mir fehlt, ist der Aufschrei aus der Mitte der Gesellschaft. Ich kann nicht nachvollziehen, wie die Polizei die Anti-Israel-Demos immer wieder unterschätzen konnte.
Dennis Stern, 34, Frankfurt am Main

»Wohin sollen wir gehen?«

Ich besuche wöchentlich unsere älteren Gemeindemitglieder, dort treffe ich auch häufiger ihre Kinder und Enkelkinder. Und in den letzten Wochen habe ich sehr oft genau diese Frage gestellt bekommen: »Sind wir denn hier noch sicher?« Manche sind sogar schon einen Schritt weiter und fragen: »Wohin sollen wir denn als Nächstes gehen?« Und vielleicht sind diese Fragen nicht hundertprozentig ernst gemeint, doch die Tatsache, dass man allgemein darüber nachdenkt, zeigt die besorgniserregende Tendenz, denn vor zehn oder sogar vor fünf Jahren hat sich noch keiner mit solchen Fragen beschäftigt. Die Beschneidungsdebatte und die neuesten Ereignisse sowie die Art, wie die Medien darüber berichten, hat in vielen den Glauben an ein gutes, freies Leben ohne Antisemitismus in Europa erschüttert. Viele sind enttäuscht, verängstigt oder verärgert. Wenn man sich die Kommentare der Bevölkerung über die Nachrichten der Tagesschau ansieht, stellt man fest, dass die meisten uns gegenüber – untertrieben gesagt – nicht sehr gut gesonnen sind und dazu bereit sind, bei jeder Möglichkeit dieses zum Ausdruck zu bringen. Jemand, der sich kritisch über das Judentum, die Juden oder Israel äußert, wird als Held gefeiert, wobei jeder Sympathisant gemobbt wird. Die Tatsache, dass sich immer weniger Juden mit einer Kippa auf die Strasse trauen, spricht ebenfalls für sich. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, dass wir in Deutschland immer noch viel besser dran sind als unsere Brüder und Schwestern in manchen anderen Ländern Europas, jedoch ist die Tendenz wirklich beängstigend, und ich hoffe und bete dafür, dass die Verantwortlichen das rechtzeitig erkennen und unterbinden werden und vor allem, dass auch die einfache Bevölkerung mehr Courage zeigt und ihre Stimme dagegen erhebt.
Avraham Radbil, 30, Rabbiner in Osnabrück

»War es richtig, zu bleiben?«
Antisemitismus gibt es überall auf der Welt. Aber gerade in Deutschland, von wo aus so viel Unheil angerichtet wurde, ist es unbegreiflich. Ich frage mich deshalb, ob ich damals richtig gehandelt habe, als ich mich nach dem Krieg entschieden habe, in Deutschland zu bleiben, obwohl ich hier das Bundesverdienstkreuz verliehen bekam und die Ehrenbürgerwürde der Stadt Bad Nauheim in Kürze erhalte.
Monik Mlynarski, 91, Gemeindevorsitzender in Bad Nauheim

»Schockierend, aber nicht überraschend«
Die massiven antisemitischen Ausbrüche der vergangenen Wochen sind zwar schockierend, aber nicht überraschend. Dass unter einem Teil der jungen Muslime in Europa antisemitische Ressentiments und auch Gewaltbereitschaft gegen Juden verbreitet sind, dürfte niemanden verwundern. Die klaren Worte führender Politiker gegen Antisemitismus und das harte Durchgreifen der Polizei stimmen mich bezüglich der Sicherheit von Juden in Deutschland wieder zuversichtlicher.
Leonard Kaminski, 27, Berlin

»Eine neue Qualität«
Das Ausmaß an antisemitischen Vorfällen in den letzten Wochen war erschreckend, der Judenhass hat eine neue Qualität erreicht. Und auch der alte Antisemitismus bricht heraus. Ein großer Teil der deutschen Gesellschaft hat ein problematisches Verhältnis zu Israel. Es besteht aber kein Grund zur Hysterie. Juden können sich im Allgemeinen noch sicher fühlen in Deutschland – hoffe ich zumindest.
Janine Cunea, Berlin

»Ich fühle mich sicher«
Als Jude fühle ich mich in Deutschland weiterhin sicher, weil ich auf die Rechtsstaatlichkeit des Landes glaube. Zudem bin ich positiv überrascht wie die Presse auf die Ereignisse reagiert hat. Dennoch habe ich mehr als ein mulmiges Gefühl. Die Entwicklung allgemein in Europa deutet auf nichts Schönes in Zukunft hin.
Illya Giventar, 22 Recklinghausen

»Angst in der Öffentlichkeit«
Juden können in Deutschland sicherer leben als in vielen anderen Ländern. Aber nicht mehr so sicher, dass sie ihren Glauben frei von Angst in der Öffentlichkeit leben können, wenn sie dies möchten.
Marcel Kroitblat, 25, Berlin

»Offene Hetze gegen Juden«
In Zeiten wie diesen zeigt sich, wer unsere wahren Freunde sind. Während auf der einen Seite einige Mutige sich gegen den spürbar ansteigenden Antisemitismus erheben, schüren auf der anderen Seite bisher scheinbar mit uns in freundschaftlichen Verhältnissen zusammenarbeitenden Organisationen, Privatpersonen und Verbände offene Hetze gegen die jüdisch-deutsche Glaubensgemeinschaft. Juden werden mit Israel gleichgesetzt und als Ventil für die durch den Gaza-Konflikt angestauten Emotionen missbraucht. Das, was lange unter der Oberfläche des moralischen Anstands brodelte, kommt nun zum Vorschein. Dabei spreche ich nicht nur von Israelhass – ich spreche vom blanken Antisemitismus.
Mike Delberg, 24, Berlin

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024

Essay

Steinchen für Steinchen

Wir müssen dem Tsunami des Hasses nach dem 7. Oktober ein Miteinander entgegensetzen

von Barbara Bišický-Ehrlich  16.04.2024

München

Die rappende Rebbetzin

Lea Kalisch gastierte mit ihrer Band »Šenster Gob« im Jüdischen Gemeindezentrum

von Nora Niemann  16.04.2024

Jewrovision

»Ein Quäntchen Glück ist nötig«

Igal Shamailov über den Sieg des Stuttgarter Jugendzentrums und Pläne für die Zukunft

von Christine Schmitt  16.04.2024

Porträt der Woche

Heimat in der Gemeinschaft

Rachel Bendavid-Korsten wuchs in Marokko auf und wurde in Berlin Religionslehrerin

von Gerhard Haase-Hindenberg  16.04.2024

Berlin

Zeichen der Solidarität

Jüdische Gemeinde zu Berlin ist Gastgeber für eine Gruppe israelischer Kinder

 15.04.2024

Mannheim

Polizei sucht Zeugen für Hakenkreuz an Jüdischer Friedhofsmauer

Politiker verurteilten die Schmiererei und sagten der Jüdischen Gemeinde ihre Solidarität zu

 15.04.2024