Literatur

Hassliebe

»Ich werde ihn nicht los, er wird mich nicht los«: Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki (l.) und Schriftsteller Günter Grass Foto: imago/Jörn Haufe

»Ich bin nur mit zwei deutschen Schriftstellern befreundet: mit Siegfried Lenz und Eva Demski. Deshalb schreibe ich keine Kritiken über deren Bücher. Eine Freundschaft zwischen einem Kritiker und einem Autor ist im Grunde unmöglich.« Fast eine Freundschaft verband Marcel Reich-Ranicki allerdings mit Heinrich Böll, weswegen dieser den Kritiker bei ihrer letzten Begegnung auch zuerst leise »Arschloch« nannte – um ihn dann zu umarmen.

»Freundschaft« Sein Verhältnis zu Günter Grass hat Reich-Ranicki wohl zu keinem Zeitpunkt seines Lebens als eine »Freundschaft« verstanden. Obgleich es sicher Zeiten gab, in denen sich Grass Reich-Ranickis Freundschaft gewünscht hätte. Und ohne Zweifel sehnte sich Grass nach dem uneingeschränkten Lob des Kritikers. Sein Verhältnis zu »MRR« hat er einmal so ausgedrückt: »Es gibt Ehen, die werden auf keinem Standesamt besiegelt und auch von keinem Scheidungsrichter getrennt.« Und er fügte hinzu: »Ich werde ihn nicht los, er wird mich nicht los.«

Das war vielleicht nicht ganz falsch, ging aber am Kern der Sache vorbei: Marcel Reich-Ranicki erwartete von Günter Grass, dass dieser seine Arbeit macht. Er selbst machte ja auch seine Arbeit – als Anwalt der Literatur. Und darin war und blieb Reich-Ranicki nun einmal unbestechlich: Kein Schriftsteller bekam bei ihm aufgrund früherer literarischer Verdienste Kredit. Wenn das neue Buch nichts taugte, dann sagte Reich-Ranicki das sehr deutlich. Denn: »Die Deutlichkeit ist die Höflichkeit des Kritikers.«

VERRISS So hat er es auch eindrücklich praktiziert in der berühmten ZDF-Sendung Das literarische Quartett, als sich MRR Grass’ 1995 publizierten Roman Ein weites Feld vornahm. Dieser Roman, so rief Reich-Ranicki entsetzt aus, sei »wertlose Prosa, langweilig und unlesbar«. Und er fragte in die Runde: »Was ist bloß aus dem Günter Grass geworden? Wie konnte das passieren?!«

Im August 1995 hatte der »Spiegel« zum ersten Mal eine Buchkritik zur Titelgeschichte gemacht. Die Titelseite zeigt eine Fotomontage, auf der Deutschlands berühmtester Literaturkritiker den Grass-Roman scheinbar mit bloßen Händen zerreißt. Reich-Ranicki verstand gar nicht, dass Grass sich darüber aufregte: »Das Bild ist, soviel ich weiß, nachgeahmt einem Gemälde von Michelangelo. Da wird Moses gezeigt, mit den beiden Tafeln in der Hand. Ich finde Michelangelo im Zusammenhang mit meiner Person nicht beleidigend! So ein schlechter Maler oder Bildhauer war er nicht! Der Vergleich mit Moses – bisschen hochgegriffen!«

Über sich selbst konnte Reich-Ranicki lachen. Doch gleichzeitig nahm er seine Arbeit als »Anwalt der Literatur« sehr ernst. Eine Arbeitseinstellung, die er selbstverständlich auch von den Schriftstellern einforderte. Jedenfalls: Hätte Grass sich selbst etwas weniger ernst genommen und sein eigenes Werk etwas kritischer betrachtet – er hätte vielleicht weniger unter den unvermeidlichen Verrissen Reich-Ranickis gelitten.

KRIEG Kennengelernt hatten sich Reich-Ranicki und Grass 1958 im Hotel Bristol in Warschau. Schnell stellte der Kritiker fest, dass der in Danzig geborene Schriftsteller aus Deutschland von der westdeutschen Literatur keine Ahnung hatte. Und nachdem ihm Grass den Plot des in seinem Kopf herumspukenden Romans Die Blechtrommel skizziert hatte, stand für Reich-Ranicki fest, dass aus diesem Buch bestimmt nichts werden wird. Worüber Grass mit dem jungen Literaturkritiker nicht redete: darüber, was er im Krieg getan hatte. Er fragte auch Reich-Ranicki nicht, wie dieser die deutsche Besatzung überlebt hatte. Grass interessierte sich anscheinend in erster Linie für – Grass.

Wie anders war Reich-Ranickis erstes Treffen mit Heinrich Böll verlaufen! Böll sprach bei seinem Besuch in Warschau, erinnerte sich Reich-Ranicki, »gleichsam in einem Atemzug von deutscher Literatur und deutscher Schuld – und jeder seiner schlichten und bisweilen linkischen Sätze wirkte überzeugend«. Böll ist es auch, der es Reich-Ranicki 1957 ermöglichte – zum ersten Mal nach Kriegsende –, wieder nach Deutschland zu reisen. Und im Juli des nächsten Jahres kehrte Reich-Ranicki endgültig nach Deutschland zurück.

Gruppe 47 Schon im Jahr seiner Rückkehr traf Reich-Ranicki erneut auf Grass, bei einem Treffen der »Gruppe 47« im Allgäu. Grass stellte ihn zur Rede: »Was sind Sie denn nun eigentlich – ein Pole, ein Deutscher, oder wie?« Reich-Ranicki erinnerte sich in seiner Autobiografie: »Die Worte ›oder wie‹ deuteten wohl noch auf eine dritte Möglichkeit hin. Ich antwortete rasch: ›Ich bin ein halber Pole, ein halber Deutscher und ein ganzer Jude.‹«

Grass war über diese Formulierung begeistert. Doch Reich-Ranicki wusste ja: »Hier stimmte kein einziges Wort. Nie war ich ein halber Pole, nie ein halber Deutscher – und ich hatte keinen Zweifel, dass ich es nie werden würde. Ich war auch nie in meinem Leben ein ganzer Jude, ich bin es auch heute nicht.« Auf dieser Tagung der »Gruppe 47« las Grass aus dem Manuskript seiner Blechtrommel vor. Reich-Ranicki war beeindruckt. Weniger allerdings von dem ganzen Buch. »Kein guter Roman«, lautete sein Urteil in der »Zeit«.

ENTTÄUSCHUNG Als Lyriker schätzte Reich-Ranicki Grass sehr, doch bei dessen Romanen folgte während der nächsten Jahrzehnte eine Enttäuschung auf die andere. Auch als Grass 1999 der Literaturnobelpreis zugesprochen wurde, hielt MRR ungeachtet aller Grass-Hymnen in den Feuilletons an seinem Urteil über den Romanschriftsteller fest: »Grass ist als Romancier weltberühmt geworden, aber er ist überhaupt kein Romancier. Seine eigentlichen literarischen Leistungen«, so Reich-Ranicki gegenüber dem »Spiegel«, »sind Erzählungen, lange Erzählungen, keine Kurzgeschichten, die kann er auch nicht.«

Noch einmal, ein letztes Mal, kam es 2003 zu einer Begegnung zwischen den beiden Männern. In Lübeck. Ein Jahr zuvor hatte Reich-Ranicki die Grass-Novelle Im Krebsgang hoch gelobt und den Schriftsteller dabei sogar ausdrücklich gegen den Vorwurf der Relativierung verteidigt: »Was Auschwitz betrifft, braucht man Grass nicht zu belehren!« Jedenfalls, nach ihrem letzten Treffen hätte die Geschichte der beiden alten Männer einigermaßen harmonisch ihrem natürlichen Ende entgegengehen können.

ISRAEL Doch 2006 platzte dann die Bombe: In seinem autobiografischen Buch Beim Häuten der Zwiebel gestand der Nobelpreisträger ein, dass er einige Monate lang Mitglied der Waffen-SS gewesen war. Das Schweigen Reich-Ranickis war lauter, als es jede Rezension, jeder offene Brief seinerseits hätte sein können. Dann veröffentlichte Grass sechs Jahre später ein Gedicht, in dem er Israel bezichtigt, es gefährde den »Weltfrieden«.

Der Titel des Gedichts lautete: »Was gesagt werden muss«. Reich-Ranickis Verriss des Romans Ein weites Feld trug seinerzeit die Überschrift »… und es muss gesagt werden«. Da lag der Verdacht nahe, dass Grass hier zwar Israel angriff, doch in erster Linie Reich-Ranicki meinte. Vielleicht, weil er dessen Beachtung brauchte – unbedingt, um jeden Preis.

Und Reich-Ranicki brach tatsächlich sein langes Schweigen zum Thema Grass. »Iran will Israel auslöschen, das kündigt der Präsident immer wieder an, und Günter Grass dichtet das Gegenteil. Das ist eine Gemeinheit, so etwas zu publizieren«, sagte Reich-Ranicki. Das Gedicht sei ein geplanter Schlag, gegen Israel, gegen alle Juden – und damit war für Reich-Ranicki das letzte öffentliche Wort zum Thema Grass gesagt.

DUELL Nicht von ungefähr hat das neue Buch von Volker Weidermann über die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki den Titel Das Duell. Vielleicht hat Grass die Beziehung zu Reich-Ranicki ja tatsächlich als »Duell« begriffen. Reich-Ranicki betrachtete Grass wohl eher als »schwierigen Patienten«. Weidermann hat nun eine Art Doppelbiografie der in jeder Hinsicht ungleichen Männer geschrieben.

Wer Reich-Ranickis Autobiografie bereits gelesen hat, kann getrost erst auf halber Strecke in das Buch einsteigen. Und wer Reich-Ranickis Mein Leben noch nicht gelesen haben sollte, wird dies hoffentlich nach der Lektüre von Weidermanns Buch tun. Das Duell ist – und auch das unterscheidet es von einem Grass-Roman – flüssig und elegant geschrieben. Doch leider, und das wird dem Autor nicht gerecht, wurde Das Duell nicht mit der nötigen Sorgfalt lektoriert. Zum Beispiel: Die Aussage, dass die Amerikaner das KZ Dachau nach dem Krieg als Vernichtungslager »rekonstruiert« hätten, ist völliger Unsinn.

Lektorat Wenn die Wörter »Zigeuner«, »zigeunerhaft« oder »Halbjude« nicht in einem wörtlichen Zitat auftauchen, dann setzt man sie zur Vermeidung von Missverständnissen in Anführungszeichen. Ebenso findet man im Buch ratlos machende Formulierungen wie »jüdisch aussehende Menschen«. Und in der Danksagung stehen hinter den Namen »Andrew Ranicki« und »Marcel Reich-Ranicki« Kreuze.

Das ist zumindest irreführend. Der Verlag wird diese und andere Fehler des Lektorats vor dem Druck der nächsten Auflage hoffentlich entfernen. Und eine zweite und dritte Auflage wären Weidermanns Werk ja wirklich sehr zu wünschen.

Und nun – zum nächsten Buch!

Volker Weidermann: »Das Duell. Die Geschichte von Günter Grass und Marcel Reich-Ranicki«. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2019, 320 S., 18,99 €

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