Aufbruch

Wir Tunesier

Hauptsache Tunesier: Demonstranten in Tunis gehen für die Gleichberechtigung von Muslimen, Christen und Juden auf die Straße. Foto: dpa

Auch wenn sich der Blick Europas mittlerweile nach Libyen richtet, sind die Auseinandersetzungen in Tunesien, wo Demokratie und Freiheit scheinbar bereits den Sieg errungen haben, noch lange nicht beendet. Vergangenen Freitag fanden im Land die größten und gewalttätigsten Demonstrationen seit dem Sturz von Diktator Zine el-Abidine Ben Ali statt: Bis zu 300.000 Menschen gingen auf die Straße.

Bei Konfrontationen mit der Polizei starben fünf Menschen. Angst macht sich breit, die Übergangsregierung verzögere die notwendigen Verfassungsreformen und breche nicht radikal genug mit dem gerade auf dem Land fortbestehenden System des Klientelismus. Die Ereignisse sind weiter im Fluss: Infolge der Proteste nahm Interimsregierungschef Mohamed Ghannouchi, immerhin elf Jahre Ministerpräsident von Ben Alis Gnaden, am Sonntag seinen Hut.

Revolutionen, so ist spätestens jetzt klar, vollziehen sich nicht in ein paar Wochen. Sie sind nie als vollkommen saubere Ereignisse zu haben. Wie viel Staub beim Kampf für die Freiheit aufgewirbelt wird, muss in Tunesien auch die rund 1.600-köpfige jüdische Gemeinde beschäftigen. Ihre Mitglieder hatten unter den Repressalien Ben Alis genauso zu leiden wie alle anderen Tunesier. Allerdings genossen sie durch sein brutales Vorgehen gegen jede Art politischer Konkurrenz seitens der Islamisten zugleich relative Sicherheit, solange sie sich dem Despoten gegenüber loyal verhielten.

Lauffeuer In den vergangenen Wochen kam es zu zwei Übergriffen auf jüdische Einrichtungen: Anfang Februar wurde im zentraltunesischen El Hamma die wenig frequentierte Grabstätte des Kabbalisten Rabbi Yosef Ma’aravi angegriffen, wobei das Eingangstor, ein Wachhäuschen und eine Torarolle zerstört wurden.

Nachdem sich daraufhin die Falschinformation, eine ganze Synagoge sei in Schutt und Asche gelegt worden, wie ein Lauffeuer um die Welt verbreitet hatte, versuchte der Präsident der jüdischen Gemeinde Tunesiens, Roger Bismuth, zu beschwichtigen: »Es wurden in der Nähe auch andere Gebäude verwüstet. Der Angriff zielte weder auf die jüdische Gemeinde, noch sind wir zurzeit besonderen Anfeindungen ausgesetzt, die uns Sorgen bereiten würden.«

Ähnlich gelassen kommentiert Georges Tibi, Vorstand der jüdischen Gemeinde von Tunis, einen Zwischenfall, der sich am 15. Februar vor der dortigen Synagoge zutrug: »Es gab eine Gruppe von Salafisten, die antijüdische Parolen schrieen und versuchten, in das Gotteshaus einzudringen. Allerdings war die Armee nach kurzer Zeit zur Stelle und stand uns zur Seite.«

Auch habe die öffentliche Reaktion auf das Handgemenge keinerlei Grund zu Befürchtungen gegeben, die Juden würden der neuen Freiheit zum Opfer fallen: »Der Vorfall kam in einer Vielzahl von Zeitungsartikeln kritisch zur Sprache, und uns erreichten eine Menge Solidaritätsbekundungen, die unseren Platz im Herzen der tunesischen Gesellschaft zum Ausdruck brachten.

Ich bin überzeugt: Unsere Sicherheit ist garantiert.« Eine Gefahr durch militante Islamisten sieht Tibi aus zwei Gründen nicht: »Die Frauen aus allen Schichten haben von Anfang an kraftvoll und mutig mitdemonstriert und für ihre Rechte gekämpft. Sie sind besonders wachsam und werden sich jedem Versuch, ihre Freiheiten zu beschneiden, entschlossen widersetzen.« Auch habe die nun wieder erlaubte islamische Partei Ennahda, immerhin der tunesische Zweig der Muslimbrüderschaft, der Gewalt abgeschworen und versichert, Menschenrechte und Demokratie zu achten, so Tibi.

Tourismus Viel wichtiger als die Aufregung um die Islamisten, so betonen Tibi und Bismuth gleichermaßen, sei nun die gemeinsame Anstrengung, dass das Land vorankomme und vor allem die Wirtschaft wieder anlaufe. Die Demokratie nütze wenig, wenn die Armut aus der Zeit Ben Alis auch das Leben nach der Revolution wieder in Beschlag nehme.

Die Einlösung vieler vollmundiger Versprechen des Westens stünde noch aus, klagt Bismuth: »Bis heute ist es vor allem bei netten Worten geblieben. Die tatsächliche Unterstützung ist ziemlich dürftig. Für die Stabilisierung ist es jetzt vor allem wichtig, dass die Touristen wiederkommen, für sie besteht definitiv keinerlei Gefahr.«

Es fällt auf, dass die jüdischen Gemeinderepräsentanten sehr darauf bedacht sind, ein gemeinsames Schicksal mit der restlichen Bevölkerung zu teilen. Sie fühlen sich zuerst als tunesische Patrioten und dann als Juden, wie Roger Bismuth es formuliert.

Der Blogger Ftouh Souhail kritisiert an dieser Haltung, die Vertreter seien noch immer nicht aus ihrer Rolle des Dhimmi, des gelittenen aber handzahmen Schutzjuden, herausgetreten. Vielleicht sind sie wie der Rest der Tunesier aber auch einfach vom Sturm der Hoffnung mitgerissen, wie der 84 Jahre alte Roger Bismuth euphorisch berichtet: »Wir erleben gerade ein Ereignis, von dem ich als Kind im Geschichtsunterricht hören konnte. Das ist der Geschmack der Freiheit.«

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