Betrachtung

Das weibliche Opfer

Jerusalemer Klagemauer: Frauen und Männer beten an dieser heiligen Stätte nach Geschlechtern getrennt. Foto: Flash 90

An der Klagemauer, dem Überrest der westlichen Stützmauer des Jerusalemer Tempels, ist heutzutage der Männer- und Frauenbereich strikt getrennt. Auch in den orthodoxen Synagogen der Welt sind die Frauen – auf der Empore sitzend oder hinter einer Gardine oder Trennwand verborgen – vom Gebet der Männer räumlich entfernt. Der heutige Gottesdienst wird mit dem damaligen Opfer im Beit Hamikdasch, dem Heiligtum, verglichen. Stellt sich die Frage: Gibt es Quellen, die darauf schließen lassen, dass es eine ähnliche Geschlechtertrennung bereits zur Zeit des Ersten oder Zweiten Tempels gab?

Tora Die biblischen Beschreibungen des ersten Jerusalemer Heiligtums, des Salomonischen Tempels, sind recht ausführlich: »Das Haus des Herren aber war sechzig Ellen lang, zwanzig Ellen breit und dreißig Ellen hoch,« heißt es zum Beispiel im 1. Buch der Könige (6,2). Trotz der präzisen Beschreibungen findet sich kein Hinweis auf die Trennung der Geschlechter.

Forscher sagen, der Vorhof der Frauen sei erst für den Besuch der Königin Helena von Adiabene im Heiligtum errichtet worden, um ihr einen angemessenen, abgeschiedenen Raum zum Beten zu gewähren. Weiter heißt es, dass die Frauenempore erst zum Schutz der Frauen vor den Männern erbaut wurde, die zu bestimmten Anlässen sehr ausgelassen feierten. Die Tora erwähnt im Zusammenhang mit dem ersten Tempel keine Unterschiede zwischen Männern und Frauen, die das Recht auf die Teilnahme am rituellen Opfer betreffen.

Über den Zweiten Tempel berichtet Josephus Flavius in seiner Beschreibung des jüdisch-römischen Krieges sogar von einem großen Tor, durch das man gemeinsam mit der Frau gehen musste. Dann allerdings taucht die Trennung auf. »Innerhalb dieses Hofes befand sich der heilige Hof, der Frauen verboten war. Und dahinter war ein Hof, den zu betreten den Priestern vorbehalten war.«

Opfer Die Tora verlangt von den Frauen bestimmte Opfer. Das wohl häufigste Pflichtopfer der Frauen diente der Reinigung nach der Geburt. Hier wird die Abwertung der Frauen in dem Regelwerk klar ersichtlich. Nicht nur, dass Frauen nach der Geburt als unrein betrachtet werden, auch die Dauer ihrer Unreinheit beträgt nach der Geburt eines Jungen nur 40 Tage, nach der Geburt eines Mädchens hingegen sogar 80 Tage (3. Buch Moses 12, 6–8).

Generell diente das Opfern als ritueller Stellvertretermord. Das Tier wird anstelle des Opfernden dem Herrn geweiht. Im Talmud (Traktat Menachot 10,13) heißt es: »Alle legen Hand auf, außer der Taubstumme, der Verrückte, der Minderjährige, der Blinde, der Nichtjude, der Sklave und die Frau.« Da das Handauflegen aber essenzieller Bestandteil des Opferkultes war, stellt diese Auflistung ein Opferverbot für die genannten Personen dar.

Das bricht mit dem Grundsatz aus dem Salomonischen Tempel, der sowohl Frauen als auch Andersgläubigen die Teilnahme am rituellen Opferkult gestattete. Dass diese Auflistung im Regelfall dennoch mit den jüdischen Gesetzen übereinstimmt, liegt daran, dass ein minderjähriges Mädchen unter der Vormundschaft des Vaters, und eine verheiratete Frau unter der Vormundschaft ihres Ehemannes gesehen wird. Doch die allgemeine Formulierung beachtet nicht die Autonomie der geschiedenen oder verwitweten Frau. Der Jerusalemer Talmud sagt hier aber deutlich, dass alleinstehende Frauen immerhin an Pessach allein oder in Gemeinschaft mit anderen alleinstehenden Frauen im Tempel opfern dürfen.

Schlachtung Doch das führt zu einem theoretischen Dilemma: Die Tora fordert, dass derjenige, der das Opfer darbringt, es auch schlachten solle, gleichzeitig aber soll das Opfer im Angesicht Gottes auf dem Altar dargebracht werden, da, wo Frauen auf gar keinen Fall hindürfen.

Als Lösung schlagen die Rabbinen vor, ein sehr langes Messer zu nehmen, das vom Hof der Frauen quer durch den Hof der Männer und dann bis ins Allerheiligste reicht, und damit das Opfertier auf dem Altar, aus sicherer Entfernung vorschriftsgemäß mit einem glatten Kehlschnitt koscher zu opfern. Dieser Vorschlag macht deutlich, dass die Rabbinen weniger um eine reale Lösung als vielmehr um die theoretische Vereinbarung der Gebote mit den überlieferten Traditionen bemüht waren.

Talmud Auch wenn in der Mischna eine der sechs Ordnungen (Naschim) ausschließlich dem Thema Frauen gewidmet ist, und auch wenn in der Ordnung Toharot, Reinheiten, vieles über Frauen gesagt wird, so war doch auch die Haltung der talmudischen Weisen gegenüber Frauen noch sehr reserviert. Sie diskutierten ausgiebig über Frauen und Scheidungen. Sie machten sich Gedanken über die Anzahl der Knochen von Männern und Frauen, über die Rechte von verheirateten und geschiedenen Frauen.

Und sie diskutierten die Rolle der Frauen im Tempel. So gehen die Weisen der Mischna von zehn konzentrischen Kreisen der Heiligkeit mit dem Allerheiligsten im Tempel als Zentrum aus. Die inneren Kreise sind: das Allerheiligste, der Hof Israels, der Hof der Frauen, die Rampe und der Tempelberg. Menstruierenden Frauen ist laut der Mischna nur noch der Zutritt zum Tempelberg erlaubt. Bereits die Rampe zum Tempel ist für sie zu heilig.

Die Forscherin Tal Ilan, die sich derzeit um eine kritische Betrachtung des Babylonischen Talmuds aus der Genderperspektive bemüht, fasst zusammen: »Frauen dienten den Rabbinen als theoretisches Spielzeug.« Doch auch dass Frauen tatsächlich aktiv am Opferkult teilnahmen, hält ihr Forschungskollege Günter Stemberger für äußerst unwahrscheinlich. Viel zu eifersüchtig wachten die Priester über ihre Privilegien im Tempel.

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024