Porträt

Ghetto Wedding

Die Erinnerung an den Wedding lässt ihn nicht los. Arye Sharuz Shalicar beugt den Kopf, fährt mit dem Zeigefinger vorsichtig über die Narben auf seinem rasierten Schädel. »Hier hat mir ein Araber den Metallstock rübergezogen«, sagt der 33-Jährige und berührt eine vier Zentimeter lange Furche über der linken Schläfe. »Und hier oben haben sie mir die Haut zusammengetackert, nachdem mir einer ein Straßenschild auf den Kopf geknallt hatte. Da lief das Blut wie Wasser.«

Es ist ein warmer Spätsommertag, die Abendsonne lässt Jerusalem leuchten. Arye Shalicar, ein kleiner, kompakt gebauter Mann, geht breitbeinig und gut gelaunt durch den Unabhängigkeitspark im Zentrum Westjerusalems. Er ist hier zu Hause. Er spricht zehn Sprachen, hat an der Hebräischen Universität Politik studiert, für das Nahost-Studio der ARD gearbeitet und ist seit einem Jahr einer von vier Sprechern der israelischen Armee. Im Internet gibt es Videos, in denen er den Gaza-Krieg von 2009 verteidigt.

unbeschwert Vor 20 Jahren hat Arye Shalicar noch in Berlin gelebt. Seine Narben stammen aus der Zeit, als er Mitglied einer türkischen Gang war. Seine Eltern waren Mitte der 70er-Jahre aus dem Iran nach Deutschland geflüchtet – wegen zunehmender Repressalien gegen die kleine jüdische Minderheit im Land des Schahs. Sie wohnten zuerst in Göttingen, wo Arye 1977 zur Welt kam, und ab 1981 dann in Berlin-Spandau. Dort erlebte er eine unbeschwerte Kindheit. Arye war ein durchschnittlicher Schüler und interessierte sich vor allem für Fußball. Sein Vater arbeitete bei Karstadt. Als sich seine Mutter 1990 mit einer Änderungsschneiderei im Wedding selbstständig machte, zog die Familie dorthin um, Osloer Straße, Ecke Prinzenallee.

»Ich bin ein Berliner Junge«, sagt Shalicar. Von seinem alten Leben erzählt er sprunghaft, aufgeregt. Noch immer klingt er irritiert, wenn er beschreibt, was es bedeutete, auch ein jüdischer Junge zu sein – im Wedding. Für sein Jüdischsein hatte sich Arye Shalicar nie interessiert, seine Eltern praktizierten die Religion nicht. Arye wusste nicht einmal, dass er Jude war, obwohl die Familie mehrfach Urlaub bei Verwandten in Israel machte.

clans Doch als der Junge erstmals den goldenen Davidstern um den Hals trug, den ihm eine Tante in Israel geschenkt hatte – da änderte sich alles. Die Mitschüler riefen ihm plötzlich »Drecksjude« hinterher. Wenn er durch die von arabisch-kurdischen Clans beherrschte Koloniestraße oder die Soldiner Straße lief, ahmten Jugendliche das Geräusch von einströmendem Gas nach. Andere wollten ihn verprügeln. »Jude, ich will dich hier nie wieder sehen. Wenn ich dich das nächste Mal treffe, wird es dir schlecht ergehen«, drohte ein junger Türke, mit dem Arye bisher Fußball gespielt hatte.

Ohrfeige Es gibt ein Erlebnis, das für ihn besonders schrecklich war. Im Herbst 1991, er war vierzehn Jahre alt, saß er am U-Bahnhof Pankstraße und schaute türkischen Mädchen hinterher, als eine Gruppe junger Araber entlangkam. Die Jugendlichen bauten sich um ihn auf. »Da haben wir ja unseren Juden. Sitzt hier einfach an unserem U-Bahnhof und schämt sich nicht einmal«, sagte Fadi, ein Palästinenser. Fadi hatte frische Erdbeeren dabei. »Gefallen dir meine Erdbeeren, Jude? Mach mal deinen Mund auf!« Arye weigerte sich erst, dann gehorchte er. »Weiter, weiter! Öffne deinen Mund, so weit, bis es nicht mehr geht!« Arye machte den Mund weiter auf, bis ihm Fadi die Erdbeere hineindrückte und befahl: »Friss, Jude, friss!« Beschämt kaute Arye auf der Frucht herum, spuckte sie aus, fragte, was die Jungen gegen ihn hätten. Er sei zwar Jude, aber nicht religiös. Da gab ihm Jim, auch Araber, eine Ohrfeige. »Erzähl uns keine blöden Geschichten, von wegen nicht religiös. Du bist Jude und gehörst zum stinkendsten Volk, das auf Erden existiert. Frieden wird es nie geben, nicht ehe ihr alle im Meer ersauft!«

Auf einmal steckte Shalicar mitten im palästinensisch-israelischen Konflikt, in Berlin, rund 3.000 Kilometer von Israel entfernt. Die Szene hat Shalicar aufgeschrieben, nachdem er schon eine Weile in Israel lebte. Sie steht in seinem Buch Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude, das jetzt im Verlag dtv erschienen ist. Es berichtet von der Suche eines Migrantenkindes nach Identität. Er habe das Buch geschrieben, damit seine Kinder besser verstünden, warum er Deutschland verließ.

bedroht Nie zuvor ist der muslimische Antisemitismus in Deutschland so drastisch, so schockierend geschildert worden wie von Arye Shalicar. Zwar gibt es Zeitungsmeldungen über Vorfälle in Berlin, bei denen Juden angepöbelt, bespuckt oder geschlagen worden sind. Die Zahl antisemitischer Vorfälle steigt seit Jahren. Doch die Taten hinter der Statistik werden nur selten sichtbar.

Arye Shalicars Buch ändert das: Hier spricht ein bedrohter Jude im Wedding, Jahrzehnte nach Hitler. Doch niemand greift ein. »Die Lehrer kämpften auch ums Überleben«, sagt Arye Shalicar heute. »Die Sozialarbeiter hatten keine Ahnung. Die Polizei traute sich nicht in die Straßen, wo die arabische Mafia saß.« Er selbst hat die Polizei nicht gerufen, »weil ich dann als Feigling abgestempelt worden wäre«. Er erzählt, dass er täglich an einer Wand in der Prinzenallee vorbeigelaufen sei, auf der in Englisch geschrieben stand: »Don’t be sad, kill Israelis!« Erst nach langer Zeit sei das Graffito übertüncht worden. Dass es deutsche Gesetze gibt, die Volksverhetzung unter Strafe stellen, hat er noch nie gehört. »Mein Berlin war kein Multikulti-Berlin. Ich habe ein Berlin des Hasses und der Vorurteile erlebt.«

dunkle Haut Ganz anders erscheint ihm Jerusalem. Er liebe die Mischung von Menschen weißer, brauner, schwarzer Hautfarbe, sagt er. »Hier habe ich mich keinen Moment fremd gefühlt, obwohl ich ein vollkommen Fremder war. Meine dunkle Haut oder mein schwarzes Haar haben hier keine Rolle gespielt. Mir wurden nie Hürden in den Weg gestellt wie in Deutschland.« Dass in Israel lebende Palästinenser das anders sehen könnten, bestreitet er. Das lässt sein Selbstbild wohl nicht zu. Es war erst die Diskriminierung durch den muslimischen Kiez im Wedding, die ihn dazu brachte, sich als Jude zu fühlen. Als Arye Shalicar im Alter von 14 Jahren den Eltern erstmals von den Anfeindungen in der Schule und auf der Straße erzählte, sagte sein Vater zu ihm, er müsse eines wissen und dürfe es nie vergessen: »Du bist ein Jude, und die ganze Welt hasst dich!«

Schlagring Damals ging es für Arye Shalicar und seine beiden jüngeren Geschwister buchstäblich ums Überleben. »Jeder auf der Straße hatte ein Messer, viele Schlagring und Gaspistole. Ich auch.« Von Integration redete in dieser Zeit kein Mensch. Die Nazis seien mal kurz in der Schule behandelt worden. Parallelen zur Gegenwart habe man nicht gezogen. Obwohl es die Zeit der brennenden Asylbewerberheime war. »Aber was bedeutete das alles für mich?«, fragt Arye in seinem noch leicht vom Weddinger Slang gefärbten Deutsch. »In welche Gesellschaft sollte ich mich denn integrieren? In die deutsche oder die muslimische? Und in welche deutsche? Viele Deutsche in meiner Gegend verbrachten doch den ganzen Tag in der Kneipe.«

Am Diesterweg-Gymnasium in der Prinzenallee stammten Anfang der 90er-Jahre etwa die Hälfte der Schüler aus muslimischen Ländern. Arye saß dort zwischen allen Stühlen. Die deutschen Kinder blieben unter sich; die Muslime mobbten und prügelten ihn, seit er als »Jude« bekannt war. Arye Shalicar gelang es, das Problem auf Weddinger Art zu lösen. Er begann, Graffitis an Mauern zu sprühen. Damit verschaffte er sich einen Namen bei muslimischen Sprayern. Er begann, wie sie zu klauen und mit Haschisch zu dealen. Um anerkannt zu werden, schlug er härter zu als die anderen, sprayte er tollkühner: auf Wände, Laster, S-Bahnen. Schließlich wurde er von der Black-Panther-Gang aufgenommen, einer der berüchtigtsten Banden Berlins. »Das waren Türken. Die hatten kein so großes Problem damit, dass ich Jude war. Überhaupt ging die Brutalität meist von Arabern aus.« Arye wurde ein stolzes Gang-Mitglied, »vielleicht das stolzeste überhaupt. Ich war ein richtiger Weddinger geworden.«

akzeptiert Irgendwann wurde er sogar von den Arabern akzeptiert. Ein großer starker Junge aus dem Libanon namens Husseyn, dem er sympathisch war, nahm ihn unter seine Fittiche und drohte den anderen: »Der ist mein Freund, den fasst keiner mehr an.« Arye Shalicar sagt: »Husseyn war es egal, ob ich Muslim oder Jude war. Von ihm habe ich gelernt, dass nicht alle Araber schlecht sind.« Doch als Husseyn in einen anderen Bezirk zog, schlug ihm der Judenhass wieder entgegen. Woher der Hass kam? »Aus den Familien«, sagt Shalicar. »Vom Vater, Bruder, Cousin. Sonst würde ein Neunjähriger nicht ›Scheißjude‹ sagen.«

Arye Shalicar lädt für den Abend in seine kleine Wohnung in einem besseren Jerusalemer Viertel ein. Den Balkon hat er mit israelischen Wimpeln geschmückt. Am Tisch sitzen seine junge Frau Liel, die er vor zwei Monaten geheiratet hat, und sein 26-jähriger Bruder, ein schlanker Mann mit Nasenpiercing. Liel stammt aus einer jüdisch-ukrainischen Familie und ist in Nürnberg aufgewachsen. Der Bruder Ronny ist seit sechs Jahren Israeli wie Arye; er hat in einer Eliteeinheit der israelischen Armee gedient und holt gerade sein Abitur nach.

Ronny sagt, er habe die gleichen Erfahrungen wie sein Bruder gemacht. Einmal hätten fünfzehn Araber vor seiner Schule gewartet, um ihn, »den Juden«, zu verprügeln. Da habe ihn der Direktor in sein Zimmer geholt und gesagt: »Du bleibst hier, bis die weg sind.« Und was passierte dann? »Nichts«, antwortet Ronny, »diese Jungs waren ja nicht von unserer Schule.« Der Direktor hätte die Polizei rufen müssen, meint Liel. »Die hätten nicht eingegriffen, haben sie nie«, erwidert Ronny. »Die sagten sich: Lasst die Kanaken sich doch gegenseitig aufschlitzen.«

vor Gericht Wie immer reden die drei auch in Jerusalem miteinander Deutsch, nicht Hebräisch. »Integration heißt nicht Assimilation«, sagt Arye Shalicar. Seine Kraft schöpfte er aus der Entdeckung der jüdischen Identität. »Nach den ersten Anfeindungen im Wedding habe ich begonnen, Bücher über Juden, Israel und den Nahostkonflikt zu lesen.« Seine Versuche, Zugang zur jüdischen Gemeinde in Berlin zu finden, scheiterten jedoch. »Für die Deutschen war ich ein Kanake, für die Moslems ein Jude, für die Juden ein Krimineller aus dem Wedding.« Irgendwann landete Shalicar wegen des Graffiti-Sprayens vor dem Jugendrichter, musste in den Jugendarrest, wurde von der Schule geworfen.

Nach einem Wechsel schaffte Shalicar schließlich sein Abitur und leistete seinen Dienst bei der Bundeswehr. Dort, wo er das erste Mal fast nur unter Deutschen war, habe er nicht ein einziges böses Wort über Juden gehört, sagt er. Doch habe er das Gefühl gehabt, in Deutschland nie wirklich heimisch werden zu können. Nach einem Aufenthalt in einem Kibbuz buchte er 2001 sein Ticket nach Israel. »In die Freiheit«, wie er sagt.

Arye Sharuz Shalicar: Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude. dtv, München 2010, 248 S., 14,95 Euro

Frank Nordhausen ist Reporter der »Berliner Zeitung«

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