Sukkot

Fragen des Lebens

Das biblische Gebot: »In Hütten sollt Ihr wohnen sieben Tage« (3. Buch Moses 23,42) Foto: Flash 90

Es ist erstaunlich, dass man gemäß der jüdischen Tradition gerade am Schabbat von Sukkot, dem Fest der Freude, das Buch Kohelet (Prediger) liest, ein Buch, das zum Nachdenken anregt und ernste, oft pessimistische Gedanken zum Ausdruck bringt. Unseren Weisen schien gerade diese Jahreszeit für diese Lektüre geeignet. Die Festzeit geht zu Ende, die Ernte hat begonnen, die Tage werden kürzer, die Stunden der Dunkelheit vermehren sich, die Natur bereitet sich auf den Winter vor – und der jüdische Mensch nimmt sich Zeit, seine Existenz zu überdenken.

Das Buch Kohelet fragt nach dem Sinn des Lebens – und sein Verfasser »versucht« (im ursprünglichen Sinne des Wortes) verschiedene Lebensweisen, um sie auf ihren Gehalt zu prüfen. Sind es Intelligenz und Weisheit, welche dem Leben Sinn geben? Sind es der stete Tatendrang und das rastlose Schaffen, welche dem Leben Inhalt verleihen? Immer wieder kommt der Prediger zu einem negativen Ergebnis. Alles scheint nichtig zu sein. Aber ist der Ausblick dieses Buches wirklich so pessimis-
tisch?

Sinnlosigkeit Tatsächlich scheint das Buch Kohelet immer wieder die Sinnlosigkeit des Lebens zu betonen, indem es den immer wiederkehrenden Zyklus des Zeitgeschehens darstellt: »Ein Geschlecht vergeht, das andere kommt, die Erde aber bleibt immer bestehen. Die Sonne geht auf, und die Sonne geht unter und drängt zu ihrer Stätte zurück, dort geht sie wieder auf« (1,4-5). Alles scheint sich zu wiederholen: »Was war, wird wieder sein, und was man tat, wird man es wieder tun, und nicht Neues gibt’s unter der Sonne?« (1,9).

Alles im Leben scheint – nach der Aussage des Predigers – festgelegt zu sein, und man bekommt den Eindruck, als sei für einen erfinderischen Geist und für schöpferische Initiative kein Platz auf Erden: »Ein jegliches hat seine Zeit, und alles Vorhaben unter dem Himmel hat seine Stunde ... Man mühe sich ab, wie man will, so hat man keinen Gewinn daran« (3,1-9).

Manchmal scheint deshalb der Prediger völlig deprimiert: »Darum verdross es mich zu leben, denn es war mir zuwider, was unter der Sonne geschieht – dass alles nichtig ist und Hasch nach Wind« (2,7).

Lebensrealität Und trotzdem – oder vielleicht gerade deshalb – ist Kohelet ein tief religiöses und lebensbejahendes Buch. Durch das Erkennen der wahren Lebens-realitäten, wie zum Beispiel die beschränkte menschliche Freiheit und die zeitbedingte Lebensdauer des Menschen, und die innerliche Annahme über von Gott geschaffene Lebensbedingungen wird der Mensch frei, seine Zeit auf dieser Welt intensiv auszunutzen. Die Gegebenheiten der Natur (auch der menschlichen »Natur«) sind zwar festgelegt, doch es ist an uns, die Zeit innerhalb dieser begrenzten Existenz in ihrem Lebensrhythmus sinnvoll auszufüllen. Das Buch Kohelet fordert deshalb immer wieder dazu auf, jeden Lebensmoment bewusst zu erleben: »So sah ich denn, es gibt kein Glück, als dass der Mensch sich freue an seinen Werken – denn das ist sein Teil« (3,22).

Im Besonderen wendet sich Kohelet an die Jugend, das Leben voll zu erfassen, allerdings mit dem stetigen Bewusstsein der göttlichen Gegenwart: »So freue Dich, Jüngling, an deiner Jugend und lass dein Herz guter Dinge sein in deinen jungen Tagen ... aber wisse, dass dich Gott um alles vor Gericht ziehen wird (11,9).

Schicksal Die paradox klingende Tatsache, dass eine reale Erkenntnis der schwierigen Lebensbedingungen den Menschen nicht zu pessimistischer Lethargie führen muss, sondern gerade umgekehrt seine inneren Lebenskräfte stärken kann, hat Rabbiner Joseph Carlebach im Vorwort zu seiner Kohelet-Exegese klar dargestellt: »Es gibt zweierlei Pessimismus: den der Selbstzerfleischung und den der Selbstbefreiung; einen solchen, der uns jeden Augenblick des Glückes verbittert und vergällt, und einen anderen, der uns unabhängig vom Unglück macht. Von dieser zweiten Art ist das Buch Kohelet. Es will dich lehren: Nimm dein Leid nicht allzu wichtig. Schicksalsschläge sind nun einmal ein Teil des Menschenloses.«

Die Betrachtungsweise des Buches Kohelet bringt den Menschen tatsächlich zur überzeugenden Erkenntnis, dass er den Lebenssinn nicht in seiner ureigenen Existenzsphäre suchen darf.

Perspektive Alles, was sich ständig um das Ich dreht, ist nichtig. Die Wörter »ich« und »nichtig« (»ani« und »hewel«) sind deshalb auch die immer wiederholten Leitworte des Buches.

Jede Weltanschauung, welche auf einer egozentrischen Betrachtungsweise aufgebaut ist, muss enttäuschen. Der biblische jüdische Ausblick ist theozentrisch. Gott steht im Mittelpunkt der Lebensanschauung, und der Lebenssinn des zeitgebundenen Menschen soll immer an zeitlosen Werten gemessen werden. Jeder Mensch soll sich dem göttlichen Ewigen verbunden fühlen und sich als Glied einer endlosen historischen Lebenskette sehen und innerhalb dieser unvergänglichen Kontinuität seine eigene Zeitbegrenztheit überwinden.

Es war eine berühmte israelische Dichterin, Lea Goldberg, die in einem ihrer Gedichte die oft negativ formulierten Hauptgedanken des Buches Kohelet ins Moderne nachgedichtet hat – und uns dadurch den biblischen Gedanken in zeitgemäßer Weise veranschaulichte. In ihrem Gedicht »Lieder vom Ende des Weges« betont sie, dass der Mensch oft das tägliche Dasein blasiert mit dem Satz abtut: Es gibt nichts Neues unter der Sonne! Aber der reife Mensch versteht die Lebensschöpfungen in ihrer steten Erneuerung zu erfassen. Sie bittet deshalb in ihrem Gedicht Gott, sie zu lehren, die menschliche Sensibilität zu nutzen, um das göttliche Schaffen und Er-schaffen immer aufs Neue in seiner wundervollen Erscheinung erkennen zu können. Das Lied schließt mit den Worten: »Oh lehre mich Gehalt, Gebet, Gesang, wenn Du erneuerst Deine Zeit im Morgenklang. Auf dass nicht werd’ wie gestern heutger Tag. Auf dass er nicht ›Gewohnheit‹ werden mag.«

Die ernsten Betrachtungen des Buches Kohelet können – richtig verstanden – wahres Lebensverständnis fördern und sind deshalb als besinnliche Lektüre am Fest der Freude geeignet.

Mezora

Die Reinheit zurückerlangen

Die Tora beschreibt, was zu tun ist, wenn Menschen oder Häuser von Aussatz befallen sind

von Rabbinerin Yael Deusel  18.04.2024

Tasria

Ein neuer Mensch

Die Tora lehrt, dass sich Krankheiten heilsam auf den Charakter auswirken können

von Yonatan Amrani  12.04.2024

Talmudisches

Der Gecko

Was die Weisen der Antike über das schuppige Kriechtier lehrten

von Chajm Guski  12.04.2024

Meinung

Pessach im Schatten des Krieges

Gedanken zum Fest der Freiheit von Rabbiner Noam Hertig

von Rabbiner Noam Hertig  11.04.2024

Pessach-Putz

Bis auf den letzten Krümel

Das Entfernen von Chametz wird für viele Familien zur Belastungsprobe. Dabei sollte man es sich nicht zu schwer machen

von Rabbiner Avraham Radbil  11.04.2024

Halacha

Die Aguna der Titanic

Am 14. April 1912 versanken mit dem berühmten Schiff auch jüdische Passagiere im eisigen Meer. Das Schicksal einer hinterbliebenen Frau bewegte einen Rabbiner zu einem außergewöhnlichen Psak

von Rabbiner Dovid Gernetz  11.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Schemini

Äußerst gespalten

Was die vier unkoscheren Tiere Kamel, Kaninchen, Hase und Schwein mit dem Exil des jüdischen Volkes zu tun haben

von Gabriel Rubinshteyn  05.04.2024

Talmudisches

Die Kraft der Natur

Was unsere Weisen über Heilkräuter lehren

von Rabbinerin Yael Deusel  05.04.2024