Biografie

Der Ölkönig

Für ihn als Geschäftsmann zählen weder Ideologien und nationale Interessen noch Moral: Marc Rich (hier ein Foto aus den siebziger Jahren) Foto: promo

Der Anfang der Firma, die zur größten, zur erfolgreichsten und auch zur berüchtigtsten Rohstoffhändlerin der Gegenwart aufsteigen würde, hätte kaum bescheidener sein können: Fünf junge Männer, keine 40 Jahre alt, bezogen im Frühling 1974 eine kleine Wohnung im schweizerischen Städtchen Zug. Die Einrichtung war spartanisch; das Geld fehlte an allen Ecken und Enden. Nicht einmal eines der damals wichtigsten Arbeitsinstrumente konnten sich die Händler leisten: einen Telex. Wollten sie ein Geschäft abschließen, mussten sie über die Straße zur Post, um Angebote zu verschi- cken oder Verträge zu empfangen. Zehn Jahre später beherrschte »Marc Rich + Co« die Branche. Die Firma handelte mit allen Metallen und Mineralien, die in der Erdkruste vorkommen; von A wie Aluminium bis Z wie Zink. Bald gab es im Geschäft nur noch »Marc Rich und die 40 Zwerge«, wie ein Konkurrent in einer Mischung aus Respekt und Resignation feststellte. Er wurde zu einem der »reichsten und mächtigsten Rohstoffhändler aller Zeiten«, so beschrieb ihn die Financial Times beinahe ehrfürchtig. Oder zum »King of Oil«, wie einer seiner treuesten Weggefährten sagte.

Medienscheu Diese erstaunliche Karriere machte Marc Rich weitgehend unbemerkt von der deutschen Öffentlichkeit. Er gilt als einer der diskretesten Händler überhaupt – und das in einer Branche, die für ihre Verschwiegenheit berüchtigt ist. Jahrelang gab es nicht mal eine Fotografie von ihm. Die Medien mussten sich mit Zeichnungen behelfen. Journalisten verweigerte er sich systematisch. »Ehrgeiz«, sagt Marc Rich, »mich treibt, wie die meisten anderen Menschen, Ehrgeiz an. Die Menschheit kam durch Ehrgeiz voran. Einige wollten höher klettern oder schneller rennen, andere wollten fliegen oder tauchen. Ich wollte Erfolg im Geschäft haben.« Für mein Buch King of Oil sprach der geheimnisumwitterte Milliardär, der heute abgeschirmt in der Schweiz lebt, zum ersten Mal über seine Geschäfte und sein mitunter tragisches Leben: die Scheidung von Denise Rich Eisenberg etwa, die damals als die teuerste der Welt galt, oder über den frühen Tod seiner Tochter, von der er sich nicht mehr verabschieden durfte.

Währung Rich avancierte auch zum wichtigsten Lieferanten des südafrikanischen Apartheid-Regimes. Das Erdöl aber, das er lieferte, stammte aus Ländern wie der Sowjetunion oder Saudi-Arabien, die offiziell Pretoria boykottierten, im Geheimen aber via Rich überaus lukrative Geschäfte mit den südafrikanischen Machthabern machten. Als wäre das alles nicht widersprüchlich genug, half Rich den Marxisten in Angola, die Ölindustrie zu entwickeln, dem sozialistischen Jamaika, die Aluminiumverarbeitung zu retten, den revolutionären Sandinisten in Nicaragua, an harte Währungen zu kommen und Fidel Castros Kuba, seine Rohstoffe zu verkaufen. Denn sobald vom Rohstoffhandel die Rede ist, zumal dem strategisch eminent wichtigen Erdöl, ist vieles nicht so, wie es der Öffentlichkeit dargeboten wird. Bei der Wahrnehmung nationaler Interessen zählen weder Moral noch politische Ideologien. Auf die Frage, ob man neutral bleiben könne, wenn man mit Diktatoren, Rassisten und korrupten Regimes Geschäfte macht, meinte Rich einmal knapp: »Ja, Business ist neutral. Sie können eine Handelsgesellschaft nicht aufgrund von Sympathien führen.«

Um Erfolg zu haben, handelte Marc Rich frei von moralischen Bedenken mit fast allen, die mit ihm handelten: Diktatoren und Demokraten, Kommunisten und Kapitalisten, Mullahs und Faschisten. Das machte ihn zum Milliardär – und zum Feindbild seiner Gegner. Die Linke sieht ihn als Ausbeuter, an dessen Fingern »das Blut, der Schweiß und die Tränen der Dritten Welt« kleben. So drastisch formulierte es einmal ein Schweizer Parlamentarier. Für amerikanische Politiker ist er ein Landesverräter, »der mit so ziemlich jedem Feind der USA« Handel trieb, schimpfte der einflussreiche Abgeordnete Dan Burton. Wer sich allerdings die Mühe macht, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen, sieht eine der schillerndsten Karrieren des 20. Jahrhunderts, ein vielschichtiges, ambivalentes Leben voll scheinbarer Widersprüche.

Marc Rich machte Geschäfte mit den iranischen Islamisten, die Israel boykottierten. Ihr Öl aber verkaufte er dem jüdischen Staat und sicherte so dessen Überleben. Pikant: Offiziell sprach Teheran Israel sein Existenzrecht ab. Inoffiziell aber wussten die iranischen Funktionäre genau, dass Rich ihr Öl dem vermeintlichen Erzfeind lieferte. »Es war ihnen egal«, sagte Rich. »Die Iraner wollten einfach Öl verkaufen.« Der Unternehmer war 20 Jahre lang Israels wichtigster Lieferant. Schon unter dem Schah hatte er das Land mit dem schwarzen Gold Persiens versorgt – über eine Pipeline von Eilat nach Aschkelon, die heimlich von Israel und Iran gemeinsam betrieben wurde.

Marc Richs Geschichte kann als Verkörperung des amerikanischen Traums gelesen werden: Aus eigener Kraft schaffte er den Aufstieg vom mittellosen Flüchtlingsjungen zum Öltycoon; mit Talent und Fleiß, mit Intelligenz und Kreativität, mit Charme und Aggressivität. Geboren wurde er im Dezember 1934 in Antwerpen als Marcell David Reich. Die Eltern waren deutschsprachige Juden. Die Mutter Paula stammte aus Saarbrücken, der Vater David ursprünglich aus dem legendären Schtetl von Przemysl im heutigen Ostpolen. Nachdem Österreich-Ungarn im Ersten Weltkrieg untergegangen und es in Galizien einmal mehr zu wüsten Pogromen gekommen war, flüchtete er nach Frankfurt. David, ein Kleinhändler, der von Altmetall bis zu Schuhen alles verkaufte, und Paula lernten sich in Frankfurt kennen und flohen, als die Nationalsozialisten 1933 die Wahlen gewannen, nach Belgien.

Flüchtling Marc Richs erste bewusste Kindheitserinnerung ist die Bombardierung Antwerpens durch die deutsche Luftwaffe im Mai 1940. Beinahe ohne Geld und jegliche Englischkenntnisse flüchtete die Familie in letzter Minute und mit viel Glück auf einem Frachtschiff vor dem Holocaust nach Marokko und schließlich in die USA. Marc Rich sollte für immer die Mentalität eines Überlebenden und eines Flüchtlings behalten. Auch darin wurzelt seine Entschlossenheit, Erfolg zu haben. In New York stieg Rich, nach einem kurzen Abstecher an die Universität, als 19-Jähriger in den Handel ein. Bei Philipp Brothers, dem damals weltgrößten Rohstoff- händler, der von einer Gruppe von deutsch-jüdischen Immigranten um Ludwig Jesselson geführt wurde, lernte Rich das Fach von der Pike auf und machte sich schnell einen Namen.

Zur Branchenlegende wurde Rich, weil er die Industrie revolutionierte: Es ist nicht übertrieben, Marc Rich + Co als den Erfinder des Spothandels zu bezeichnen. Wer sein Auto an einer Tankstelle füllt, macht eine Art Geschäft an Ort und Stelle (»on the spot«): Er braucht Benzin, ist mit dem angebotenen Preis zufrieden und kann es ohne weitere Verpflichtungen sofort kaufen. Im internationalen Ölhandel war das bis Anfang der Siebzigerjahre die große Ausnahme. Die Zuger Firma zerschlug fast im Alleingang das Monopol der sieben führenden Ölkonzerne (unter anderem BP, Shell und Texaco). Dieses Kartell kontrollierte mit langfristigen Verträgen und festen Preisen den Markt – von der Förderquelle bis zur Zapfsäule. Dank Marc Rich wurde Rohöl ab Mitte der Siebzigerjahre freier, effizienter und zu transparenteren Preisen gehandelt als je zuvor. Und: Dank unabhängiger Händler wie Rich konnten die rohstoffreichen Länder die Dominanz der Konzerne brechen und in der Folge besser von ihren Bodenschätzen profitieren.

Anklage Auf dem Höhepunkt seiner Macht kam der Fall. Zum Verhängnis wurden Marc Rich im Grunde zwei Dinge: Er handelte nach der islamischen Revolution 1979 trotz US-Embargo mit iranischem Erdöl, während Amerikaner in ihrer Botschaft in Teheran als Geiseln gehalten wurden. Und er versuchte, mit komplizierten Geschäften von den Ölpreiskontrollen zu profitieren, die damals in den USA galten. Staatsanwalt Rudy Giuliani, der spätere New Yorker Bürgermeister, sah beides als illegal an. Er bezeichnete Rich als den »größten Steuerbetrüger in der Geschichte der USA« und klagte ihn 1983 des »Handels mit dem Feind« an. Rich, der bis heute seine Unschuld beteuert, setzte sich noch vor der Anklage in die Schweiz ab und kehrte nie wieder in die USA zurück. Ob die Geschäfte der Firma rechtmäßig waren, wurde darum nie von einem Gericht geklärt. Staatsanwalt Giuliani ließ den Fall Rich, auf dem er seine politische Karriere aufbaute, bewusst eskalieren. Der Ölhändler wurde auf die FBI-Liste der meistgesuchten Verbrecher gesetzt, US-Polizisten auf der ganzen Welt jagten ihn. Amerikanische Undercover-Agenten versuchten sogar einmal, Rich illegal aus der Schweiz zu entführen – und flogen peinlicherweise auf.

Einsatz Siebzehn Jahre lang versuchte das mächtigste Land der Welt vergeblich, Marc Richs habhaft zu werden. 2001 wurde er schließlich von Präsident Bill Clinton an dessen letztem Tag im Amt begnadigt. Der Grund: Israelische Politiker wie Präsident Schimon Peres und Verteidigungsminister Ehud Barak hatten sich persönlich für Rich eingesetzt. So dankten sie es ihm, dass er Israel in schwierigsten Zeiten mit Öl versorgt, heimlich Mossad-Operationen finanziert und sich als großzügiger Philanthrop gezeigt hatte. Bis heute hat es kein Konkurrent geschafft, einflussreicher zu werden. Die Marc Rich + Co heißt mittlerweile Glencore und ist eines der größten Unternehmen der Welt in Privatbesitz. Rich hat seine Firma vor einiger Zeit dem Management verkauft, das derzeit an einen Börsengang denkt. Seine ebenso umstrittenen wie erfolgreichen Geschäftspraktiken werden Glencore – und die gesamte Branche – noch lange prägen.

Der Autor ist Verfasser der soeben im Orell Füssli Verlag (Zürich 2010, 24,90 Euro) erschienenen Biografie »Marc Rich. Vom mächtigsten Rohstoffhändler der Welt zum Gejagten der USA«, die für den Deutschen Wirtschaftsbuchpreis 2010 nominiert wurde.

Ungarn

Europäisch und zeitgemäß

Das einzige jüdische Theater heißt Gólem und ist jünger und provokanter, als die meisten erwarten

von György Polgár  18.04.2024

Großbritannien

Seder-Tisch für die Verschleppten

131 Stühle und zwei Kindersitze – einer für jede Geisel – sind Teil der Installation, die in London gezeigt wurde

 18.04.2024

Medien

Die Mutter einer Geisel in Gaza gehört zu den »einflussreichsten Menschen 2024«

Das Time Magazine hat seine alljährliche Liste der 100 einflussreichsten Menschen des Jahres veröffentlicht. Auch dieses Mal sind wieder viele jüdische Persönlichkeiten darunter

 18.04.2024

Indonesien

Unerwartete Nähe

Das Land mit der größten muslimischen Bevölkerung der Welt will seine Beziehungen zu Israel normalisieren

von Hannah Persson  18.04.2024

Schweiz

SIG begrüßt Entscheidung für Verbot von Nazi-Symbolen

Wann die Pläne umgesetzt werden, bleibt bisher unklar

von Imanuel Marcus  17.04.2024

Judenhass

Antisemitische Vorfälle in den USA um 140 Prozent gestiegen

Insgesamt gab es 8873 Übergriffe, Belästigungen und Vandalismusvorfälle

 17.04.2024

Chile

Backlash nach Boykott

Mit israelfeindlichem Aktionismus schadet das südamerikanische Land vor allem sich selbst

von Andreas Knobloch  16.04.2024

Kiew

Ukraine bittet um gleichen Schutz wie für Israel

Warum schützt der Westen die Ukraine nicht so wie Israel? Diese Frage stellt der ukrainische Staatschef Selenskyj in den Raum

von Günther Chalupa  16.04.2024

Statement

J7 Condemn Iranian Attack on Israel

The organization expressed its »unwavering support for Israel and the Israeli people«

von Imanuel Marcus  15.04.2024