Esoterisch

Die Schoa wegatmen

Die junge Frau mit den rotbraunen, etwas zotteligen Haaren hat noch viel zu tun. Sie strickt eine Socke und ist gerade beim Hacken. Nur für zehn Minuten wird sie ihre fünf Stricknadeln und das Wollknäuel beiseite legen: Wenn an diesem Samstag gemeinsam mit etwa 600 anderen Gästen im Audimax des Henry-Ford-Baus der Freien Universität Berlin über den Holocaust meditiert wird. Initiator dieses sogenannten Healing Events mit dem Titel »Wahrheit heilt« ist die Global Awareness Association, ein Berliner Verein mit nicht ganz weltlicher Vision: Er will die Menschheit auf eine höhere Bewusstseinsebene heben. Zusammen mit dem Österreicher Thomas Hübl, der sich selbst als »spiritueller Lehrer der heutigen Zeit« bezeichnet, veranstaltet die Global Awareness Association eine »Synchronized Humanity Tour«. Diese soll den »kollektiv verdrängten Schmerz« aus der NS-Zeit und der Vergangenheit des Zweiten Weltkriegs heilen. Frauen und Männer fast aller Altersstufen haben sich dafür zwei Tage Zeit genommen. So lange dauert der Healingevent.

inneres ja Mit geschlossenen Augen konzentrieren sich die Anwesenden auf die dunkle, leise Stimme von Thomas Hübl. Er trägt einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und hat die langen Haare zu einem strengen Zopf zurückgebunden. Der 38-Jährige atmet ins Mikrofon. »Schau, dass du ein inneres Ja findest, dich der Thematik öffnest.« Er fordert jeden Einzelnen auf, die emotionalen Dinge, die während der kommenden zwei Tage hochkommen sollten, nicht als persönlichen, sondern als kollektiven Schatten zu sehen. Parallel zu den Meditationsübungen ist eine Frau namens Efrat über den Internetdienst Skype live aus Israel zugeschaltet. Auch sie ist eine spirituelle Lehrerin und hat 30 Menschen in ihrer Wohnung irgendwo im Heiligen Land versammelt, um gemeinsam mit den Deutschen in Berlin den Schmerz »wegzuschweigen«.
Ständig strömen neue Teilnehmer in den Hörsaal. Auf dem Programm stehen Vorträge mit obskuren Titeln wie »Adolf Hitler, Winnenden und wir?« und »Der Holocaust aus integraler Sicht« sowie ein »Integrationsworkshop«, bei dem »die spirituellen Auswirkungen des Zweiten Weltkriegs auf unser alltägliches Erleben noch tiefer erforscht« werden sollen.

Lehrmeister Ein weiterer spiritueller Lehrer betritt die Bühne. Andrew Cohen ist amerikanischer Jude und erzählt seinen deutschen »Schülern«, wie brutal sie miteinander umgehen würden. Das, sagt Cohen, sei der Schatten der deutschen Vergangenheit. Aufgabe der Menschheit sei es, das »Geschenk der kollektiven Angst als individuelle Entwicklungschance zu sehen«. Cohen erzählt eine ganze Menge, nur was genau der Holocaust mit ego-, ethno- oder kosmozentrischen Weltbildern zu tun hat, bleibt nebulös. Der 30-jährigen Jelske ist die Veranstaltung nicht ganz geheuer. Sie ist aus Neugierde mit Freunden hier und findet, dass der Healing Event auf einem »kleineren Level vielleicht hilfreich wäre«, aber ihr steht die Skepsis ins Gesicht geschrieben. Nach der Mittagspause ist die Berlinerin verschwunden. Allerdings ist Jelskes Zurückhaltung nicht repräsentativ.

Sich in einer Gruppe dem Thema Holocaust zu nähern, fasziniert die Menschen offenbar. Wie die beiden Oranienburgerinnen Anna und Dörte. Die Frauen haben aus einer Esoterik-Zeitschrift von der Veranstaltung erfahren und hoffen auf ein besonderes Erlebnis: »Im Geschichtsunterricht lernt man vieles über den Zweiten Weltkrieg und den Holocaust. Wir möchten neben dieser theoretischen Erfahrung mal eine spirituelle machen.« Außerdem gäbe es kostenloses Essen, und man könne sich noch über andere Kurse informieren. Zum Beispiel die Workshops von Lehrmeister Hübl. Für durchschnittlich 250 Euro ist man mit von der Partie. Und das Angebot ist vielfältig. Es gibt quasi nichts, was nicht geheilt werden könnte, lautet das Versprechen.

Müll Die rothaarige Frau mit dem halbfertigen Socken gönnt sich derweil im Foyer eine Pause. Dort steht ein Spendentopf. Die große Glasvase ist gut gefüllt. Und womöglich wird sie noch voller werden. Außerdem kann man Videomitschnitte der Veranstaltung kaufen oder vor Ort Kurse buchen. Eine ältere Dame mit Sonnenbrille streicht um die Tische, auf denen die Angebote ausliegen. Sie interessiert sich aber vor allem für die vielen Pappbecher und sammelt sie ein. »Das verstehe ich nicht«, sagt sie kopfschüttelnd. »Da drin wollen sie die Welt verändern, schaffen es aber nicht mal, ihren Müll wegzuräumen.« Ach ja, überall lauern menschliche Schwächen, die es wegzuatmen gilt.

Kommentar

AfD in Talkshows: So jedenfalls nicht!

Die jüngsten Auftritte von AfD-Spitzenpolitikern in bekannten Talk-Formaten zeigen: Deutsche Medien haben im Umgang mit der Rechtsaußen-Partei noch viel zu lernen. Tiefpunkt war das Interview mit Maximilian Krah bei »Jung & Naiv«

von Joshua Schultheis  24.04.2024

Meinung

Der Fall Samir

Antisemitische Verschwörungen, Holocaust-Relativierung, Täter-Opfer-Umkehr: Der Schweizer Regisseur möchte öffentlich über seine wirren Thesen diskutieren. Doch bei Menschenhass hört der Dialog auf

von Philipp Peyman Engel  22.04.2024

Essay

Was der Satz »Nächstes Jahr in Jerusalem« bedeutet

Eine Erklärung von Alfred Bodenheimer

von Alfred Bodenheimer  22.04.2024

Sehen!

Moses als Netflix-Hit

Das »ins­pirierende« Dokudrama ist so übertrieben, dass es unabsichtlich lustig wird

von Sophie Albers Ben Chamo  22.04.2024

Immanuel Kant

Aufklärer mit Ressentiments

Obwohl sein Antisemitismus bekannt war, hat in der jüdischen Religionsphilosophie der Moderne kein Autor mehr Wirkung entfaltet

von Christoph Schulte  21.04.2024

TV

Bärbel Schäfer moderiert neuen »Notruf«

Die Autorin hofft, dass die Sendung auch den »echten Helden ein wenig Respekt« verschaffen kann

von Jonas-Erik Schmidt  21.04.2024

KZ-Gedenkstätten-Besuche

Pflicht oder Freiwilligkeit?

Die Zeitung »Welt« hat gefragt, wie man Jugendliche an die Thematik heranführen sollte

 21.04.2024

Memoir

Überlebenskampf und Neuanfang

Von Berlin über Sibirien, Teheran und Tel Aviv nach England: Der Journalist Daniel Finkelstein erzählt die Geschichte seiner Familie

von Alexander Kluy  21.04.2024

Glosse

Der Rest der Welt

Nur nicht selbst beteiligen oder Tipps für den Mietwagen in Israel

von Ayala Goldmann  20.04.2024