Berlin

Ein Kibbuznik wird Konditor

»Ein Leben ohne Kuchen ist möglich, aber sinnlos«: Aviv Koriats – vom Produktdesigner zum Kuchenbäcker Foto: Gregor Zielke

Am oberen Ende der Pannierstraße im Norden des Berliner Bezirks Neukölln, dort, wo der schmuddelige Problemkiez an das mondäne Kreuzberger Kanalufer grenzt, ist ein kleiner, fast unauffälliger Laden, der allein durch seine intensiven Gerüche die Aufmerksamkeit der Passanten auf sich zieht. In seinem schlichten, weißen Verkaufsraum steht eine Theke, in der bis zu zehn unterschiedliche Kuchen beleuchtet werden, wie man sie in Berlin – vermutlich in ganz Deutschland – kein zweites Mal findet. Es sind die Kuchen von Aviv Koriat, nach dem die kleine Kuchenmanufaktur Koriat auch benannt ist. Es sind Kuchen, wie sie Koriat, gebürtiger Israeli aus dem nördlichen Jordantal, aus seiner Kindheit und Jugend im Kibbuz kennt und deren Rezepte und Perfektionierung Koriat sich zur Lebensaufgabe gemacht hat.

Backstube Aviv Koriat, Jahrgang 1961, ist ein hagerer Mann mit grauen Schläfen, der auch in der Backstube Jeans und einen schlichten, eng sitzenden schwarzen Pullover trägt. Gerade eben hat Koriat acht frische Biskuitböden aus dem Kühlraum geholt, jetzt verteilt er eine dunkle Schokoladenmasse mit akkuraten, fast zärtlichen Handgriffen auf dem Kuchen. Er hält die Kuchen zwischen den Handflächen und bewegt sie wie ein Geschicklichkeitsspiel, bis sich die warme, weiche Masse gleichmäßig verteilt hat. In der kleinen Backstube stapeln sich die fertigen Kuchenböden in hohen Türmen, an den Wänden hängen dutzende Kuchenformen, auf den weißen Kacheln der Wände sind mit buntem Edding Kuchenrezepte vermerkt, in einer undurchschaubaren Mischung aus deutschen und hebräischen Worten. Die Nachfrage ist groß, sehr groß, in den beiden Öfen backen bereits die nächsten Kuchenböden. Aviv Koriat und seine Helfer kommen kaum nach.

Aviv Koriats Geschichte könnte so etwas wie eine israelisch-berlinerische Variation von Marcel Prousts berühmter Episode über die Madeleines seiner Tante sein, über den Geschmack der Kindheit im Allgemeinen und die vielen Geschmäcker eines Kibbuz in den 60er- und 70er-Jahren im Besonderen, wenn Koriats Weg zum Kuchenbacken nicht so unwahrscheinlich und darum erstaunlich wäre. Fragt man Aviv Koriat, wie er vor zehn Jahren reagiert hätte, hätte man ihm diese Zukunft prophezeit, stutzt er erst, dann lacht er schallend.

Karriere Tatsächlich deutete in Aviv Koriats Leben wenig auf eine zweite Karriere als Feinbäcker hin. In einem Kibbuz als Sohn eines marokkanischen Juden aufgewachsen, studierte Koriat nach dem Militärdienst zunächst Kunst in Jerusalem und New York, ehe er in Tel Aviv als Produktdesigner zu arbeiten begann. Es war, wie er sagt, ein schnelles Leben zwischen den Flughäfen und vor allem vor dem Computer, mit Kunden in Japan und ganz Europa und Produktionsstätten in Fernost. Und es war offenbar auch ein Leben, das bei allem Erfolg unerfüllend blieb. Denn als Koriats damalige Frau, eine israelische Künstlerin, ein Stipendium im Künstlerhaus Bethanien in Berlin-Kreuzberg erhielt, nutzte Aviv Koriat die Chance, um sich nicht nur von Tel Aviv, sondern auch von seinem Designbüro und seinem alten Leben zu verabschieden. Was aber folgte, war nicht die erhoffte Erlösung, sondern zunächst eine tiefe Krise, erzählt Koriat. Berlin war vor allen Dingen kalt und abweisend, Koriat ohne Sprachkenntnisse und Richtung.

Entlohnung Die Erlösung, erzählt er, kam vollkommen unerwartet: »Schon im letzten Jahr in Tel Aviv hatte ich angefangen zu backen und hatte Kurse bei französischen Feinbäckern belegt. Ich hatte für mich selbst und für Freunde Kuchen gemacht, vor allem auch, weil mir meine Wurzeln fehlten – nämlich die Handarbeit, das Kochen und Backen, wie ich es aus dem Kibbuz kannte.« Eines Tages in Berlin bekam er einen Anruf von einer israelischen Künstlerin, die ebenfalls hier wohnte. Sie sagte: »Ich habe kein Geld, aber nächste Woche ist mein Geburtstag. Würdest du für mich kochen und backen?« Er sagte ja und fragte: »Wer wird dafür bezahlen?« Und sie sagte: »HaSchem wird dich bezahlen!« Obwohl Koriat nicht besonders religiös ist, gefiel ihm ihre Antwort und er willigte ein. Es gab ein großes, wunderschönes Essen, und am folgenden Tag bekam er zwei Anrufe: einen von einem Cafébesitzer und einen von einem Interieurdesigner für Cafés, der ihn einem seiner Kunden empfahl. Kurz darauf hatte er eine Anstellung als Kuchenbäcker. »Und ich wusste: Das ist die Entlohnung von HaSchem!«
Für ein Zehntel dessen, was er zuvor als Produktdesigner verdient hatte, begann der Israeli in einem Kreuzberger Café zu arbeiten. Der Anspruch an seine Produkte aber blieb. Wenn Koriat erzählt, wie er begann, die Rezepte der Kuchen seiner Kindheit zusammenzutragen, dann spricht aus ihm noch immer der Produktdesigner. Dann redet er von Optimierung und Prototypen und von den fast 100 Käsekuchen, die er backen und probieren musste, ehe er mit dem Geschmack wirklich zufrieden war. Koriat muss lachen, wenn man ihn darauf anspricht. Überhaupt strahlt er diese beneidenswerte Gelassenheit eines Menschen aus, der weiß, dass sein Leben auf dem richtigen Weg ist.

Kundschaft Weil er sich auf die Bäckerei konzentrieren will, liefert er nicht, sondern lässt abholen. Und so kommen jeden Tag 16 Cafés nach Neukölln, um Apfel-Ingwer-Kuchen, orientalischen Orangen-Gries-Kuchen oder Käsekuchen-Nuss-Karamell-Tartes zu kaufen. Aus dem Geheimtipp am Ende der Pannierstraße ist längst eine Pilgerstätte für Kuchenliebhaber geworden. An der Wand hinter der Kaffeemaschine hängt eine kleine Postkarte, die den Kunden vermutlich nicht mehr als ein ein kurzes Schmunzeln entlockt. Auf ihr steht zu lesen: »Ein Leben ohne Kuchen ist möglich, aber sinnlos.« Für Aviv Koriat aber steckt darin in eine viel größere Weisheit.

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