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Netztreue Anarchisten

»Internet verursacht Krebs«: Plakataktion ultraorthodoxer Kreise in Jerusalem Foto: Flash 90

Das Internet sei ein »Ort voller Schmutz«. Aber auch hier gebe es nur »Haschem« und »keinen G’tt außer ihm«. Mit diesen sehr eindrücklichen Worten beschrieben die Verantwortlichen bei »Etrog« ihre Sicht des weltweiten Netzes. Nach einer rabbinischen Entscheidung verließ die charedische Seite Im Dezember vergangenen Jahres das Netz, kehrte im Februar allerdings wieder zurück, unter dem neuen Namen »tog«, aber mit der gleichen Botschaft: »Die Mission geht weiter«. Die Macher verstehen die Seite (www.tog.co.il) als eine Art Lichtstrahl inmitten der vielen schlechten und gottlosen Angebote dieser virtuellen Welt. Sie verbreitet weiterhin »reine, gefilterte und aufbereitete« Nachrichten für charedische Juden, und steht entsprechend unter strenger rabbinischer Aufsicht.

antwerpen Etwa 600.000 bis 800.000 Charedim, häufig auch als ultraorthodoxe Juden bezeichnet, leben derzeit allein in Israel. Dank des Kinderreichtums gibt es gute Perspektiven auf eine weiter wachsende Gemeinschaft. Auch in den USA nimmt die Zahl der Charedim zu, etwa im New Yorker Stadtteil Brooklyn oder in Kiryas Joel im Bundesstaat New York. Eines der europäischen Zentren ist Antwerpen. Geschätzt sind es 1,6 Millionen charedische Juden weltweit, eine nicht gerade kleine Gruppe innerhalb des Judentums.

Für Außenstehende präsentiert sich diese Strömung als einheitlicher Block. Tatsächlich aber sind die Charedim in viele kleine Gruppen aufgeteilt. Zum einen gibt es die Chassidim, die sich an die Weisungen ihrer Rabbiner halten, zum anderen gibt es die »Bnei Jeschiwa«, die sich nach der Lehrmeinung ihrer Jeschiwa und ihrer Lehrer richten. Den meisten Gruppen ist aber gemeinsam, dass sie auf eine strikte Trennung der charedischen Welt und der Welt außerhalb bestehen. Deshalb wird viel unternommen, um den Einfluss von außen möglichst gering zu halten. Lediglich Chabad Lubawitsch, die bekannteste Bewegung innerhalb der charedischen Gemeinschaft, versucht die Welt außerhalb zu erreichen und setzt dabei auch stark auf das Internet. Für nahezu alle anderen Gruppen dieses Spektrums der Orthodoxie gilt dies nicht. Sie betrachten das Internet – zumindest offiziell – so wie die Herausgeber von Etrog.

Gedolej Israel Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich im Dezember 2009 21 Rabbiner der charedischen Welt in einem Brief erneut gegen die Verwendung des Internets richteten. Ihr Schreiben war speziell an die Betreiber charedischer Seiten adressiert und indirekt auch an deren Nutzer. In dem Schreiben untersagten die »Gedolej Israel« (die Großen Israels) zum wiederholten Male die Nutzung des Internets. Und sie verboten explizit den Besuch und den Betrieb der Seiten, die sich an das charedische Publikum wandten. Auch jegliche Unterstützung entsprechender Seiten wurde untersagt, was sich in erster Linie auf die Werbekunden bezog. »Wir wissen schon seit langer Zeit von den Gefahren des Internets; all jene die es betreten, werden nicht zurückkehren«, hieß es etwa. »Viele jüdische Seelen sind bereits in seine Falle gegangen, in jeder Familie. Die private Nutzung des Internets wurde schon schärfs-
tens für jeden Haushalt untersagt. Aber zu dieser Zeit nehmen die ›charedischen‹ Internetseiten überhand. Sie bringen alle Arten von Klatsch und Tratsch gegen die charedische Gesellschaft an die Öffentlichkeit und verbreiten verbotenen Klatsch und üble Nachrede, Lügen und schlimme Unreinheiten über Abscheulichkeiten zu Tausenden und Zehntausenden.«

Dieser Brief fand schnell seinen Weg an die Öffentlichkeit – über das Internet. Genau die kritisierten Seiten waren es, die die rabbinische Veröffentlichung als erste verbreiteten. Bereits in der Verlautbarung der »Gedolej Israel« wurde jedoch ein Problem deutlich, vor dem die gesamte charedische Welt nach wie vor steht: die Bedeutung des Internets für die gesamte Gesellschaft und für die einzelnen Mitglieder.

Der erste große Bann des Internets erschien bereits vor zehn Jahren, später erlaubte man zumindest die Nutzung für berufliche Zwecke. Dennoch entstanden charedische Internetseiten, der Kreis der Nutzer wurde immer größer.

Respekt Auch die Zeitung »Hamodia« ging mit dem Angebot einiger Texte aus ihrer Printausgabe und mit Abo-Informationen online. Hamodia, wie auch andere charedische Medien, unterliegen in ihrer redaktionellen Gestaltung einigen Restriktionen. So wird man keine Fotografien von Frauen finden, oder Werbung, in denen für Produkte geworben wird, die nicht für die charedische Welt geeignet sind. Respekt für die Rabbiner wird vorausgesetzt.

Auch zahlreiche charedische Blogs sind im Netz. Und vor allem mobil zu nutzende Internetseiten hatten es der Zielgruppe angetan, also Seiten, die nicht für die Nutzung vom heimischen Computer, sondern über sogenannte Smartphones eingerichtet wurden. Und das, obwohl führende Rabbiner entschieden hatten, dass nur diejenigen Mobiltelefone »koscher« seien, mit denen ausschließlich telefoniert werden kann. Also keine SMS-Nachrichten und schon gar keine Internetnutzung per Handy. Kurz nach dieser Entscheidung erschienen »koschere« Handys auf dem Markt, die ausschließlich die Telefon-Grundfunktion erlaubten, und die auch eine Freigabe entsprechender Rabbiner vorzuweisen hatten.

Offenbar hielten sich nicht alle Mitglieder der charedischen Gemeinschaft an die Entscheidung der Rabbiner. Sie nutzten weiterhin fleißig ihre Smartphones und besuchten mobile Internetseiten.

Smartphone Ziel eines neuerlichen Verbots waren in erster Linie die charedischen Webseiten, darunter haredim.co.il, kikarhashabat.co.il und bhol.co.il (Bechadrej Charidim). Tatsächlich »offline« gegangen ist keine der Seiten. Haredim.co.il erklärte in einer Nachricht an die Leser, man werde sich den »Gedolej Israel« beugen und ihren Ratschlag befolgen. Tatsächlich werden seit Dezember 2009 die Inhalte nicht mehr aktualisiert. Sie sind jedoch weiterhin verfügbar. Ein Autor des charedischen Blogs yachdus.com wies kürzlich darauf hin, dass die Seiten für den mobilen Internetzugang weiterhin aktualisiert werden würden. Es sei nicht auf den ersten Blick sichtbar, doch sei der Dienst mit einem Smartphone zu nutzen.

Kikarhashabat.co.il zeigte sich vom rabbinischen Erlass recht unbeeindruckt und verbreitet weiterhin täglich, mit Ausnahme des Schabbats, die neuesten Nachrichten für die charedische Welt. Auch Videos sind im Angebot.

Eigendynamik Es scheint, als habe das Internet seine eigene Dynamik entwickelt. Der Einfluss der rabbinischen Lehrer schwindet, zumindest in der virtuellen Welt. So kann nur noch nachgebessert, aber nicht mehr verhindert werden. Trotz Verboten und Drohungen – auf Plakaten warnen ultaorthodoxe Gruppen zum Beispiel: »Internet erzeugt Krebs« – werden die Angebote nach wie vor intensiv genutzt. Was dabei besonders zu beanstanden gewesen sein dürfte, waren die Elemente, die heute als »user generated content« gelten und die Klickzahlen und damit die Attraktivität für Werbekunden erhöhen: Kommentare und Anmerkungen zu einzelnen Artikeln. und Themen Ein Blick auf kikarhashabat.co.il reicht aus, um zu sehen, welches Potenzial in den Nutzerkommentarensteckt. Denn gerade dieser Bereich wird von den Lesern auch dazu genutzt, Kritik an einzelnen Entscheidungen bestimmter Rabbiner zu üben.

Aufsicht Hier schufen die Nutzer einfach Fakten. Die rabbinischen Führer geben nach, sie beugen sich dem Willen ihrer Gemeinschaft. So wie »Etrog« nach der Verlautbarung der 21 jüdischen Geistlichen sofort in einer ausführlichen Nachricht an die Leser erklärte, dass Angebot einstellen zu wollen. Um dann kurze Zeit später wieder unter anderem Namen aber gleicher rabbinischer Aufsicht wieder ins Netz zurückzukehren.

Bei bhol.co.il war der Fall etwas anders. Die redaktionellen Leiter fühlten sich an die Verordnungen der Rabbiner gebunden und tatsächlich erschien seit 2009 kein neuer Artikel mehr. Guy Cohen, Vorstand der Firma Global Networks, die »Bechadrei Charedim« betreibt, kritisierte jedoch die Entscheidung der »Gedolej Israel« öffentlich und kündigte an, Rabbiner Moshe Karp, dessen Unterschrift neben anderen unter dem Bann der Internetseiten stand, zu verklagen. Cohen, er bezeichnet sich selbst nicht als religiös, sah das Unterfangen eher unter wirtschaftlichen Aspekten. Er ließ zwar seine Seiten online, jedoch war die regelrechte Flucht der Werbekunden ein erheblicher Schaden für das Geschäft. Dabei hatte er Anfang Januar als Kompromiss vorgeschlagen, die Seite unter die inhaltliche Kontrolle des Rabbiners zu stellen. Karp lehnte jedoch ab und erneuerte seine Forderung, die Seite vollständig zu schließen.

Filter Der Kampf ist nicht vorüber. Die rabbinische Führung versucht, ihre Position zu behaupten. Das zeigt eine neue Entscheidung, nach der jeder potenzielle Student einer Jeschiwa abgewiesen werden soll, wenn er daheim über einen Internetzugang verfügt. Nachbarn sind angewiesen, Verdachtsfälle zu melden. Entsprechende Aufrufe wurden in den strengreligiösen jüdischen Stadtvierteln Jerusalems ausgehängt.

Ähnlich in Bnei Brak: Ende Februar erneuerten in der charedisch geprägten Stadt bei Tel Aviv verschiedene Rabbiner ihre Kritik am Internet und forderten umfangreiche Schutzmaßnahmen. So sollen Internetfilter eingerichtet werden, die eine Nutzung nur im Bereich der beruflichen Tätigkeit zulassen.

Das Pendel schlägt also permanent zwischen vollkommener Ablehnung und Nutzung unter starken Einschränkungen hin und her. Nur sind viele charedische Nutzer davon derzeit offenbar unbeeindruckt. Sie gehen weiterhin ins Netz, und diskutieren ausführlich auch die Entscheidung der »Gedolej Israel«. Die Dynamik des Internets dürfte eine harte Probe für die charedische Welt sein.

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