Entscheidungshilfe

Ja, nein, vielleicht

Dank Amazon, Ebay und anderen Internetanbietern ist Einkaufen heute eine richtig einfache Angelegenheit. Suchen Sie ein Buch, einen Pullover, eine Digitalkamera oder ein paar Skistiefel? Sie müssen nur noch den gewünschten Artikel im Internet angeben, und schon erscheinen tausende Angebote, aus denen man seine Auswahl treffen kann. Über Testseiten und Preisvergleiche können wir auch noch das beste und kostengünstigste Angebot herausfinden. Nur einen Klick entfernt. Klingt perfekt. Nur der Nachteil ist, dass diese vielen Angebote uns unsere Entscheidung sehr schwer machen. Ist das wirklich der richtige Artikel, stimmen die Testberichte, gibt es vielleicht ein ähnliches Produkt nicht noch irgendwo etwas billiger? Und sogar nachdem wir uns entschieden und die gewünschte Ware bestellt haben, bleibt uns trotzdem immer ein gewisser Zweifel. Vielleicht wäre die andere Marke doch besser? Fazit: Vor lauter Bäumen sieht man den Wald nicht mehr. Und schon werden Menschen unglücklich, weil sie mit der gekauften Ware nicht zufrieden sind, denn vielleicht wäre die andere Wahl doch besser gewesen.

Auch die Zeitschrift »Psychologie heute« beschäftigte sich Anfang des Jahres mit diesem Phänomen. Im Titel wurde Lebenshilfe versprochen: »Wie Sie lernen, sich richtig zu entscheiden«.

Auch an dieser Stelle wollen wir uns der Frage zuwenden: Wie trifft man eine richtige Wahl? Um beim Beispiel des Internetkaufs zu bleiben: Wie kann man mit dem Erworbenen zufrieden sein und es weiterhin bleiben, angesichts der riesigen Auswahl? Aber auch: Wie wähle ich einen richtigen Studien- oder Arbeitsplatz, und woher weiß ich noch im Nachhinein, dass meine Entscheidung richtig gewesen ist? Diese Fragen beschäftigen unsere Gesellschaft tagtäglich. Also was sagt das Judentum dazu? Gibt es in unserer jahrtausendealten Tradition einen Zauberspruch für die richtige Entscheidung?

Nutzen Doch zunächst noch einmal zu »Psychologie heute«. Dort geht es unter anderem um die Frage, ob man zum Einkaufsbummel einen Regenschirm mitnehmen soll oder nicht. Nimmt man den Schirm mit, regnet es nicht. Zugleich be-
steht die Gefahr, das Ding einfach irgendwo stehen zu lassen. Regnet es, ist man froh, doch einen Schirm mitgenommen zu haben. Wer sich dagegen entscheidet, hat beide Hände frei. Wenn es jedoch regnet, werden die Einkaufstüten nass.

»Das Leben ist eine Serie von Entscheidungen, wichtigen und weniger wichtigen«, schreibt der Autor Heiko Ernst. Er verweist in seinem Artikel auf den Schweizer Mathematiker Daniel Bernoulli, der 1738 eine Formel erfand, mit der ein Nutzen einer Entscheidung errechnet werden kann. Und er erwähnt den Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, Herbert Simon, der 1978 die Theorie der »begrenzten Rationalität« entwickelt hat. Die besagt, dass in den meisten Entscheidungssituationen ein vollständig rationales Verhalten unmöglich ist. Es komme also darauf an, das Abwägen und Informieren irgendwann abzubrechen, und eine Entscheidung zu treffen.

Doch, und da kommt der »Psychologie heute«-Autor zu unserem Ausgangspunkt, trägt der neue Informationsüberfluss von vornherein mehr zur Verwirrung als zu vernünftigen Entscheidungen bei: »So werden wir allmählich alle zu Entscheidungsscheuen, zu Unentschiedenen, vor allem aus dem Wunsch heraus, Fehler zu vermeiden.« Bleibt nur die Intuition, das Bauchgefühl, oder die Entscheidung aus dem Unbewussten, wie es Sigmund Freud nennt. »Dieses unbewusste ›Etwas‹ war lange Zeit ein Synonym für Intuition, für jene geheimnisvolle Gabe, fast instinktiv das Richtige zu tun«, schreibt Ernst.

Formel Zurück zum Judentum. Was sagen unsere Weisen dazu? Die haben zwar keinen Zauberspruch für eine richtige Entscheidung, doch geben sie uns eine sehr wichtige Formel, die uns bei unseren Entscheidungen weiterhelfen soll. Der Vorgang ist sehr einfach: Man zählt das Für und Wider auf, alle Argumente pro und contra. Und wie es in der Demokratie üblich ist, gewinnt die Mehrheit. Der Trick besteht darin, dass sobald diese Entscheidung getroffen ist, für uns keine weiteren Alternativen existieren dürfen. Sobald es also 51 zu 49 Prozent für eine der Möglichkeiten steht, und die Entscheidung für die 51 Prozent gefallen ist, dann soll es für uns 100 zu 0 heißen. Denn die anderen Alternativen würden uns nur verwirren und die Freude an unserer Entscheidung nehmen.

Dieselbe Prozedur soll man zum Beispiel auch bei der Studien- oder Arbeitsplatzwahl befolgen. Man zählt seine Stärken und Talente auf, und findet dann den am besten passenden Beruf oder Studienweg. Doch indem man sich entscheidet, soll man automatisch alle anderen Jobs und akademischen Möglichkeiten vergessen. Das ist die Formel für Zufriedenheit und Befriedigung im Leben. Aber woher nehmen unsere Weisen diese Formel, aus welchen Stellen der heiligen Schriften könnte die Formel abgeleitet werden?

Talmud Im Talmud, am Ende des Traktates Brachot, steht eine sehr interessante Aussage: »Die Wörter der Tora können nur in jemandem bestehen bleiben, der sich über sie tötet«. Viele Kommentatoren stellen ein und dieselbe Frage: Wie können die Weisen behaupten, dass man sich über die Wörter der Tora töten soll? Es steht doch in der Tora selbst, dass man in ihren Geboten leben soll. Das heißt, dass die Tora uns zum Leben verhelfen soll und nicht zum Sterben. Dies ist auch der Grund dafür, dass alle Gebote der Tora (mit nur drei Ausnahmen) übertreten werden können, wenn es um ein Menschenleben geht. Denn das hat absoluten Vorrang. Was meint also diese talmudische Aussage? Dazu gibt es viele Kommentare. Manche behaupten, dass die Weisen uns damit vermitteln wollen, dass man erst den bösen Trieb oder das Körperliche in sich töten muss, um in der Lage zu sein, die heiligen Worte der Tora aufzunehmen. Andererseits gäbe es keinen Platz für die geistige Tora in uns.

Doch der Chafetz Chaim (Raw Israel Meir HaCohen Kagan, 1838-1933) erklärt diese talmudische Stelle mithilfe einer Geschichte: Ein nicht sehr junger aber erfolgreicher Ladenbesitzer bemerkte graue Haare auf seinem Kopf, als er sich morgens im Spiegel betrachtete. Er musste sich selbst eingestehen, dass er älter wurde, und der Tag des himmlischen Gerichts immer näher kommen würde. Also entschloss er sich, etwas mehr für sein Judentum zu tun, um nicht mit leeren Händen in die kommende Welt zu gehen. Also begann er, jeden Morgen die Synagoge aufzusuchen, um mit einem Minjan zu beten. Seine Frau zeigte sich zwar etwas überrascht, reagierte aber nicht weiter darauf, weil sie dachte, dass diese Veränderung seines Verhaltens mit den Wechseljahren zu tun habe und bald wieder vorbeigehen werde.

Geduld Doch es kam anders. Ihr Mann entschloss sich, nach dem Gebet noch eine Stunde in der Synagoge zu bleiben, um sich mit dem Torastudium zu beschäftigen. Er fand darin großen Gefallen, und aus einer Stunde wurden zwei, und später sogar drei Stunden. Die Geduld seiner Frau ging zu Ende. Sie fragte ihn, wie er so etwas tun könne, schließlich sei sie nicht in der Lage, alle Kunden allein zu bedienen. So würden seine neue Angewohnheiten die Familie viel Geld kosten. Daraufhin fragte er sie: »Wenn der Todesengel morgen kommen und mich zu sich holen würde, was würdest du dann ohne mich machen?« Die Frau erwiderte, dass sie dann gezwungen wäre, allein das Geschäft zu führen. Daraufhin sagte er: »Dann stell dir vor, dass jeden Tag, von acht bis zwölf Uhr, also in der Zeit, in der ich mich mit dem Gebet und Torastudium beschäftige, der Todesengel kommt und mich zu sich nimmt.« Genau das ist der Sinn der talmudischen Aussage, sagt der Chafetz Chaim. Wenn man mit dem Torastudium erfolgreich sein möchte, muss man sich vollkommen darauf konzentrieren und für die Außenwelt wie tot sein. Das meint der Talmud, wenn es heißt: »Sich über den Worten der Tora töten«.
Zweifel Doch gilt dieses Prinzip nicht nur für das Torastudium, sondern für jegliche Beschäftigung. Man kann nur Erfolg haben, wenn man sich einer Sache vollkommen widmet und alles andere aufgibt. Denn durch das andere wird man nur abgelenkt und verwirrt. Dies gilt für unseren Arbeitsplatz, für unser Familienleben, die Partnersuche, sogar für solche Kleinigkeiten wie die Wahl eines Fernsehprogramms. Jeder kennt doch bestimmt die Situation, wenn zwei oder mehrere Sendungen, die man gerne schauen würde, parallel zueinander laufen und man verzweifelt vor dem Fernseher sitzt und mit der Fernbedienung hin und her schaltet, weil man sich nicht entscheiden kann. Doch falls man sich nicht entscheidet, was in der Regel der Fall ist, hat man keine von den Sendungen richtig gesehen. Und man bleibt mit leeren Händen zurück. Diese Formel gilt für alle unsere Entscheidungen, denn unsere Weisen sagen, dass falls eine Formel stimmt, sie überall anwendbar ist.

Dieselbe Formel müssen wir auch bei der Wahl eines Produktes im Internet anwenden. Sobald wir uns für ein bestimmtes Buch, einen Pullover, eine Digitalkamera oder ein paar Skischuhe entschieden haben, müssen wir die anderen Angebote vergessen. Denn indem wir an sie denken, verwirren wir nur uns selbst damit und werden unglücklich.

Übrigens wird das Wort »Zweifel« in Hebräisch als »Safek« übersetzt. Nach der Gematria ist der Zahlenwert dieses Wortes der gleiche wie der des Wortes »Amalek«. Also besteht eine tiefere Verbindung zwischen den beiden Worten. In der Tora steht ausdrücklich, dass man die Erinnerung an Amalek auslöschen muss, dieser Abschnitt wird jedes Jahr an Purim vorgelesen. Übersetzt könnte es also heißen, dass wir nicht jeglichen Zweifel, sondern sogar die Erinnerung daran auslöschen müssen. Denn der Zweifel kann genau wie Amalek sehr gefährlich sein.

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