Lorenz Beckhardt

Opas Rückkehr

von Tobias Kühn

Opa war ein Grabstein. Als kleiner Junge spazierte Lorenz Beckhardt oft an der Hand seiner Oma zum Friedhof, wo der Großvater lag. Die alte Frau pflanzte Stiefmütterchen und wässerte den Buchsbaum, im Winter legte sie Reisig auf das Grab. Lorenz half ihr, manchmal durfte er die Gießkanne tragen. Als er größer wurde und zur Schule ging, las er den Namen auf dem Grabstein: Fritz Beckhardt, geboren 1889, gestorben 1962. Mehr wusste er nicht über den Opa. Weder die Großmutter noch sein Vater verloren je ein Wort über ihn.
Heute, 40 Jahre später, weiß Lorenz Beckhardt so viel über seinen Großvater, dass ihn jeder Ahnenforscher darum beneiden würde. Doch die Fakten musste der 46-Jährige mühsam zusammentragen. Wie man das macht, hat er gelernt. Lorenz Beckhardt ist Fernsehjournalist. Über zwei Jahre hat er in Archiven gestöbert, seinen Vater gelöchert und Verwandte befragt. Entstanden ist ein Dokumentarfilm, den Beckhardt aus Befangenheit aber nicht selbst gedreht hat, sondern sein Freund und Kollege Mathias Haentjes. Titel des Streifens: Der Jude mit dem Hakenkreuz.
Lorenz’ Großvater Fritz Beckhardt stammte aus einer jüdischen Händlerfamilie in Rheinhessen. 1889 in Wallertheim geboren, macht er nach der Schule eine Lehre zum Textilkaufmann und wird ein deutscher Patriot. Von 1909 bis 1911 leistet er Wehrdienst, 1914 meldet er sich freiwillig zum Krieg. Er wird Patrouillenführer und lässt sich 1917 zum Kriegspiloten ausbilden. Im Frühjahr 1918 fliegt er im Jagdgeschwader 3 an der Seite von Hermann Göring und erhält ein knappes Dutzend Orden, darunter das Eiserne Kreuz I. Klasse und das Inhaberkreuz vom Königlichen Hausorden der Hohenzollern, das nur 18-mal vergeben wurde. Auf sein Flugzeug malt Fritz Beckhardt sein Glückszeichen: ein Hakenkreuz, das altindische Sonnensymbol.
»Ich habe die Akten der Regimenter durchgeackert, in denen mein Großvater war, und mich mit zahllosen Fliegergeschichten aus dem Ersten Weltkrieg beschäftigt«, stöhnt Lorenz Beckhardt. Nicht im Traum habe er daran gedacht, sich eines Tages freiwillig mit Militärgeschichte zu befassen. »Ich habe sogar Ernst Jünger gelesen«, sagt er. Eine Zumutung für jemanden, der selbst nie »gedient« hat. Doch Lorenz Beckhardt wollte alles wissen über seinen Großvater, lange genug war über ihn geschwiegen worden.
Schon einmal, vor knapp 30 Jahren, hatte Lorenz eine familiengeschichtlich relevante Begegnung mit dem Militär. Es war Ende der 70er-Jahre, er war fertig mit der Schule und sollte zur Bundeswehr. Weil er damals »ziemlich links gestrickt« war, wie er sagt, verweigerte er. Eines Tages, ein entfernter Verwandter war gerade zu Besuch, kam man beiläufig darauf zu sprechen. »Wieso musst du verweigern?«, fragte der Verwandte, »du brauchst nicht zur Bundeswehr, dein Vater ist Naziverfolgter.« Lorenz war baff. Er hatte sich bisher eher auf der Täterseite gesehen – als Linker zwar mit dem Gefühl, zu den besseren Deutschen zu gehören –, und nun sollte er plötzlich Sohn von Opfern sein? Mit Befremden stellte er fest, dass er kaum etwas über die Geschichte seiner Familie wusste. Weder hatten seine Eltern ihm davon erzählt, noch hatte er gefragt. Seine Mutter sagt heute: »Ich habe immer gedacht, dass er, wenn er Fragen hätte, sie meinen Eltern stellen würde.«
Lorenz’ Familie betrieb – schon in fünfter Generation – einen Gemischtwarenladen in Sonnenberg, einer Kleinstadt bei Wiesbaden. Als Lorenz zehn war, schickten ihn die Eltern aufs Gymnasium nach Bonn, in ein Internat der Franziskaner. »Ich konnte meinem Sohn nicht bei den Hausaufgaben helfen, wir hatten ja den Laden, und ich selbst war nur fünf Jahre in der Schule«, sagt Lorenz’ Vater, Kurt Beckhardt. Er, der Sohn des hochdekorierten jüdischen Kriegshelden Fritz Beckhardt, wurde im Juni 1939 als Elfjähriger mit einem Kindertransport nach England geschickt. Der Vater sitzt zu dieser Zeit im Gefängnis. Der Grund: »Rassenschande« – ein Verhältnis mit dem Dienstmädchen. Von Zuchthaus hat das Gericht abgesehen wegen seiner Verdienste im Krieg. Als Fritz Beckhardt die Strafe abgesessen hat, kommt er ins KZ Buchenwald in die Strafkompanie. Er muss im Steinbruch arbeiten – und wird nach einigen Monaten überraschend entlassen. Ein Wunder? Nein. Es gibt Quellen, die vermuten lassen, dass Reichsmarschall Hermann Göring seine Hand im Spiel hatte.
Im März 1940 reist Fritz Beckhardt mit seiner Frau über Portugal nach England aus. »War das eine Freude, die Eltern wiederzusehen«, sagt Kurt Beckhardt. Der heute 80-Jährige nennt die Jahre in England »mit die beste Zeit meines Lebens«. Weil sich 1939 keine Familie für ihn fand, kam er in ein Lager, ein altes Rittergut bei Ypswich, wo er mit vielen gleichaltrigen Jungen »ein tolles freies Leben« führte – ohne Schule. Später zog er mit den Eltern in den Londoner Vorort Golders Green, begann mit 14 eine Lehre zum Motormechaniker – und wurde in seinem Herzen Engländer.
Doch dann der Bruch. Weil Fritz Beckhardt auch nach Jahren mit der englischen Sprache nicht zurechtkam, kehrte die Familie 1951 nach Deutschland zurück, in die kleine Stadt Sonnenberg, wo sie bis zum »Judenboykott« am 1. April 1933 einen Gemischtwarenladen betrieben hatten. »Dass ich mitging, war die größte Fehltat meines Lebens«, sagt Kurt Beckhardt. Er war damals 21, und die Chefin der Werkstatt, in der er Autos reparierte, hätte es gern gesehen, wenn er ihr Schwiegersohn geworden wäre. Warum er nicht blieb, fragt er sich bis heute, auch wenn er mit seinem Leben in Deutschland inzwischen zufrieden sei, wie er sagt.
Die 50er-Jahre in Sonnenberg waren hart für die Beckhardts. »Wir konnten nur äußerst schwer wieder Fuß fassen und unser altes Geschäft betreiben«, sagt Kurt Beckhardt. Die Bewohner des Ortes raunten sich zu: »Das sind die Juden, die sind wiedergekommen.« Viele wollten mit ihnen nichts zu tun haben; die einen, weil sie immer noch von der Goebbels-Propaganda geprägt waren, die anderen, weil sie sich genierten: Um Gottes Willen, wie treten wir diesen Leuten unter die Augen? »Ich merkte«, sagt Kurt Beck- hardt, »dass ich als Jude nicht überall gut ankam.« Er spricht langsam und wägt jedes Wort genau ab. »Immer wenn sich herausstellte, dass ich Jude bin, musste ich mich erklären.« Lernte er ein Mädchen kennen, lief es nur so lange gut, bis er ihr erzählte, dass er jüdisch ist. Als er zu seinem 30. Geburtstag immer noch keine Braut nach Hause geführt hat, schaltet seine Mutter einen Schadchen ein. Die Vermittlung glückt, und 1960 heiratet das junge jüdische Paar. In einer Kirche, denn Kurts Frau ist getauft. Ihre Familie verdankt katholischen Christen ihre Rettung. Auf Wunsch der Schwiegermutter konvertiert auch Kurt, und als Lorenz zwei Jahre später geboren wird, lassen sie ihn taufen. »Es war damals in unserer Umgebung ein absoluter Vorteil, katholisch zu sein«, sagt Kurt Beckhardt. »Zumindest war es nicht zu empfehlen, Jude zu sein.« Er stockt, schluckt und blickt zu seinem Sohn. »Jedenfalls war es in Sonnenberg so.«
Von all dem hat Lorenz Beckhardt erst spät erfahren. Und auch nur, weil er hartnäckig nachfragte. »Dieser Generation und der Generation ihrer Eltern muss man alles aus der Nase ziehen«, sagt er laut und voller Ungeduld, während sein Vater mit gefalteten Händen zusammengesunken neben ihm auf dem Sofa sitzt und geradeaus blickt. »Von alleine kam da keiner auf die Idee und sagte, nun komm mal her, ich will dir was erzählen«, mokiert sich Lorenz. Und wie er das sagt, da schimmert der Jugendliche durch, der er mit 18 war: draufgängerisch, revolutionär – und ahnungslos.
Es muss 1980 gewesen sein, da reiste Lorenz zum ersten Mal nach Israel, auf Verwandtenbesuch. Gideon, der Cousin seiner Mutter, holte ihn am Flughafen ab – und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Um Gottes Willen, wen schicken die uns denn da?!« Der junge Verwandte aus Deutschland hatte lange Haare, trug ein Palästinensertuch, hielt Israel für ein »imperialistisches Projekt« – und wusste nicht, dass er Jude ist. Es war ihm klar, dass die Verwandten Juden sind und dass sie vor den Nazis aus Deutschland geflohen waren. Doch erst lange Zeit später sollte ihm bewusst werden, dass auch er jüdisch ist.
Das war vor etwa zwölf Jahren. Er saß mit einem Praktikanten in seinem Büro im WDR-Fernsehen in Köln, und die beiden unterhielten sich über ihre Familien. »Ich erzählte ihm von meiner Mutter und Großmutter, da sagte er zu mir: ›Dann bist du auch Jude.‹« Aus heutiger Sicht war das für Lorenz Beckhardt das Ende einer Suche, von der er lange nicht wusste, wohin sie führen würde. Inzwischen hat er vom Kölner Rabbiner das Zertifikat bekommen, dass er halachischer Jude ist, und er ist Mitglied der Bonner Synagogengemeinde geworden.
Lorenz’ Eltern wissen nicht, was sie davon halten sollen. »Irgendetwas müssen wir falsch gemacht haben«, sagt seine Mutter und zuckt mit den Schultern. »Ich wäre nie auf den Gedanken gekommen, zum jüdischen Glauben überzutreten und statt in die Kirche in eine Synagoge zu gehen.« Dass seine Mutter das Judentum allein für eine Religion hält, ärgert Lorenz Beckhardt. »Warum verstehst du nicht, dass es kein Übertritt ist, sondern dass ich – familienhistorisch gesehen – zurückgekehrt bin?« Seine Mutter sitzt neben ihm und schweigt. Ob sie Angst hat, dass er nun auch sie zum Judentum zurückbringen möchte? »Das weiß ich nicht, ich kann seine Gedanken nicht lesen.«
Seine Eltern vom Judentum zu überzeugen, liegt Lorenz Beckhardt fern. »Meine Mutter ist aufgrund ihrer Geschichte katholisch, es wäre absurd, sie davon abzubringen.« Manchmal allerdings überlegt er, ob er die Eltern zum nächsten Sederabend mitnehmen sollte. Was ihn am Judentum fasziniert, ist nicht das Religiöse, sondern vor allem der ethnische Aspekt. Wenn er ab und zu in die Gemeinde gehe, dann tue er dies »vor allem, um Juden zu treffen«, weniger, um zu beten.
Lorenz’ Großvater Fritz Beckhardt soll 1940 vor der Ausreise nach England zu seinen Schwiegereltern, die die Schoa nicht überlebten, gesagt haben: »Wir kommen zurück. Auch nach diesen Tausend Jahren wird es noch Juden am Rhein geben.« Enkel Lorenz hat seinen Teil getan.

Der Dokumentarfilm »Der Jude mit dem Hakenkreuz« wird am Montag, 12. November, 23.15 Uhr im WDR-Fernsehen ausgestrahlt.

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