Stummfilm

»Kampf zwischen Ohr und Auge«

Der Dirigent Daniel Grossmann über die Musik zu »Das alte Gesetz«, die Premiere in Berlin und ein Konzert in Warschau

von Katrin Richter  23.03.2018 14:07 Uhr

Daniel Grossmann Foto: Florian Jaenicke

Der Dirigent Daniel Grossmann über die Musik zu »Das alte Gesetz«, die Premiere in Berlin und ein Konzert in Warschau

von Katrin Richter  23.03.2018 14:07 Uhr

Herr Grossmann, Sie haben mit dem Orchester Jakobsplatz München die von Philippe Schoeller komponierte Musik zu dem Stummfilm »Das alte Gesetz« eingespielt. Was hat Sie an diesem Projekt gereizt?
Ich habe zwar schon des Öfteren Stummfilme mit Originalmusik begleitet, aber noch nie welche mit neuer Musik. Mich hat zum einen interessiert, so etwas einmal uraufzuführen und zu sehen, wie ein zeitgenössischer Komponist auf einen Film reagiert, der circa 100 Jahre alt ist. Zum anderen fand ich es spannend, dass es sich um einen explizit jüdischen Film handelt.

Ist die Komposition gelungen?
Philippe Schoeller ist gerade nicht in die Falle getappt, die sich bei so einem Film auftut. Er hat keine, ich sage es einmal bewusst so, »Klezmerfolklore« komponiert, sondern eine sehr psychologische Musik geschrieben, die nicht nur vom Klang her zeitgenössisch ist, sondern auch darauf achtet, dass sie den Film ergänzt und ihn nicht begleitet. Das, was die Musik hinzufügt, ist die psychologische Gefühlsebene der Protagonisten, in der man Anspannung und Liebe spürt. Alles, was durch den fehlenden Text zu kurz kommt, wird durch die Musik erlebbar.

Könnte man die Musik auch allein hören und so erahnen, in welche Richtung der Film gehen wird?
Ich glaube nicht, denn dafür ist sie zu abstrakt. Das mag sich vielleicht etwas abschreckend anhören, aber genau so – also abstrakt – klingt die Musik in Verbindung mit dem Film eben nicht. Denn der Film hilft der Musik, ein Bild zu geben. Bei Stummfilmen mit Originalmusik ist es ein Kampf zwischen Ohr und Auge. Die Frage, worauf man sich konzentriert, stellt sich sehr oft. Bei Das alte Gesetz ist dies nicht der Fall, denn die Musik ist sehr ruhig, unaufdringlich, und vieles passiert auf einer unterbewussten Ebene. Man wird nicht durch die Musik gestört, und sie ist sehr leicht mit den Bildern in Einklang zu bringen.

Der Film entstand 1923. Wie aktuell ist »Das alte Gesetz« für Sie?
Stummfilme behandeln oft Themen, die mir nicht mehr so nah sind. Erst kürzlich habe ich Das neue Babylon aufgeführt. Darin geht es um die Pariser Kommune im Jahr 1871. Das ist interessant und hat vielleicht auch in gewissen Punkten einen Bezug zum Heute. Aber es ist natürlich schon ein Thema, das nicht unbedingt in meinem Alltag vorkommt. Bei Das alte Gesetz hingegen ist das absolut so. Denn im Endeffekt geht es darum, dass sich ein junger Mann aus dem Schtetl von seiner Religion scheinbar ab- und der Kunst zuwendet. Das hat auch etwas mit mir zu tun.

Wie sind Sie an diese umfangreiche Arbeit herangegangen?
Eigentlich mit viel Ruhe, aber de facto mit viel Panik. Denn wie überall gibt es Überraschungen. Die Premiere war für die Berlinale im Februar 2018 angesetzt. Bereits im Juli 2017 entstand die Idee, eine DVD zu produzieren. Und der einzige Zeitpunkt, den wir dafür noch frei hatten, war der September. Der Komponist musste also in kürzester Zeit zwei Stunden 15 Minuten Musik um- und fertigkomponieren. Ich erhielt die Partitur Mitte August, Mitte September fingen wir mit der Produktion an. Ich hatte drei Wochen Zeit, mir die Partitur mit dem Film einzurichten und die Musik zu lernen.

Wie hat Ihr Orchester auf das Projekt reagiert?
Erst einmal sehr befremdet, denn sie alle wissen natürlich, wie Filmmusik funktioniert. Es ist aber in diesem Fall durchaus anders. Ich selbst musste mich hineinhören und einarbeiten, mich gefühlsmäßig darauf einlassen. Denn es ist nicht so, dass wir beispielsweise zu einer Szene, in der geschossen wird, laut spielen. Bei dem Film, der 1923 entstanden ist, ist die Bildsprache eine andere, die Art zu schauspielern, ist nicht so modern, und trotzdem bekommt Das alte Gesetz durch die Musik eine ganz neue Modernität.

Die Premiere fand im Rahmen der Berlinale im Friedrichstadtpalast statt, und das Orchester Jakobsplatz twitterte anschließend, dass es sich auf »ein bis zwei Premieren-Bier« freue. Wie erinnern Sie sich an diesen Abend?
Der Friedrichstadtpalast ist eine großartige Kulisse. Wir waren sehr glücklich, haben lange gefeiert. Aber wir waren auch alle wahnsinnig erschöpft, denn der Film dauert zwei Stunden 15 Minuten, und wir haben ohne Pause gespielt. Das ist extrem anstrengend, denn erstens gibt es in der Musik sehr viele Pausen, zweitens gibt es viele lange Töne, und ich bin nicht frei in meinem Tempogefühl, sondern muss mit einem Timecode synchron sein.

Was machen Sie vor einem solchen Konzert?
Die wichtige Frage ist eigentlich: Wie viel Wasser trinke ich, damit ich nicht nach fünf Minuten bereits Durst bekomme, aber auch nicht gleich zur Toilette muss. Ausruhen ist wichtig, viel Schlaf – das Dirigieren ist schon Sport genug.

Sie werden demnächst in Vilnius und Warschau spielen. Mit welchen Erwartungen reisen Sie dorthin?
Ich bin gespannt: Es ist eine kleine Wundertüte, die uns da erwartet. In Vilnius treten wir in der Philharmonie auf, in Warschau sind wir im »Museum der Geschichte der polnischen Juden« – und ich frage mich wie das Publikum auf diesen sehr jüdischen Film reagieren wird.

Gerade bei der augenblicklichen Stimmung in Polen …
Der Antisemitismus in Polen ist ja nicht neu, der existiert ja schon sehr lange. Aber gerade in Polen gibt es auch ein unglaubliches Revival jüdischer Kultur – solange die Juden nicht da sind. Das ist ein wenig mein Gefühl. Von daher erwarte ich, dass das polnische Publikum den Film und die Musik eher positiv aufnehmen wird. Allerdings ist Judenhass auch in Litauen ein großes Thema und leider wieder am Erstarken.

Mit dem Dirigenten des Orchester Jakobsplatz München sprach Katrin Richter.

Weitere Informationen zum Orchester Jakobsplatz München finden Sie hier: www.o-j-m.de

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