Porträt der Woche

»Ich bin Internationalistin«

Lyuksina Vyshnyakova ist Philosophin und überlebte die Schoa als Kind im Ural

von Anja Bochtler  05.03.2018 20:22 Uhr

»Als junge Frau in der Sowjetunion habe ich Antisemitismus erlebt, hier noch nie«: Lyuksina Vyshnyakova (86) lebt in Freiburg. Foto: Rita Eggstein

Lyuksina Vyshnyakova ist Philosophin und überlebte die Schoa als Kind im Ural

von Anja Bochtler  05.03.2018 20:22 Uhr

Blutdruck messen, Medikamente schlucken, zu Ärzten gehen: Mit solchen Dingen verbringe ich inzwischen viel Zeit. Ich bin 86 Jahre alt, da gehört das wohl dazu. Doch die Gesundheitsprobleme hängen auch mit meiner Kindheit zusammen. Mein Elternhaus in Kiew stand an einer Straße, auf der im Herbst 1941 unzählige Menschen zu ihrer Ermordung in die Schlucht von Babi Jar geführt wurden.

Ich hatte großes Glück, dass ich nicht unter ihnen war. Trotzdem war ich ständig in Todesgefahr. Später bin ich Philosophin geworden. Ich schreibe Beiträge für Zeitungen und bin bei Kulturveranstaltungen dabei, als Teilnehmerin und Organisatorin. So habe ich in meinem eigentlich ruhigen Alltag in der Seniorenwohnanlage in Freiburg, wo ich inzwischen lebe, immer viel zu tun.

Zurzeit arbeite ich an einem Buch. Es soll eine Mischung werden aus meinen eigenen Erinnerungen, Berichten über die Schicksale von anderen und Reflexionen zu verschiedenen Themen. Es geht vor allem um den Krieg und die Versöhnung. Die meisten Texte sind bereits irgendwo erschienen. Ich hatte großes Glück, nicht nach Babi Jar gekommen zu sein.

USA Seit einigen Jahren veröffentliche ich Artikel in mehreren Zeitschriften. Angefangen hat das, nachdem ich 2007 einen Schulfreund in Philadelphia besucht habe. Viele amerikanische Juden dort konnten nicht verstehen, warum ich 1994 mit meinem Mann und meinem Sohn ausgerechnet nach Deutschland ausgewandert bin, ins Land der Täter. Sie hatten ein sehr schlechtes Bild von den Deutschen, mit vielen Vorurteilen. Sie stellten mir lauter Fragen. Also musste ich viel erzählen.

Ich wurde von einigen jüdischen Gemeinden und Organisationen eingeladen. Eigentlich hatte ich mich in den USA erholen wollen, aber dazu kam es nicht. Ich hatte einen anstrengenden, aber wichtigen Job zu erledigen! Danach begann ich, für eine Zeitung amerikanischer Juden über das Leben jüdischer Auswanderer in Deutschland zu schreiben.

Mit der Zeit kamen andere Themen und andere Zeitungen hinzu, unter anderem schreibe ich auch für russischsprachige Juden in Deutschland. Die Bedenken der Juden in den USA oder in Israel gegenüber Deutschland kann ich natürlich nachvollziehen. Aber die Realität sieht heute anders aus. Ich habe in Deutschland nur gute Erfahrungen gemacht. Das will ich vermitteln, auch wenn es manchmal auf Widerstände stößt. Ich bin immer kämpferisch gewesen. Und ich diskutiere gern.

reaktor Im Grunde hatte ich immer eine Verbindung zu Deutschland. Das lag an den deutschen Philosophen. Sie waren sehr wichtig für mich, zuerst als Studentin, später als Philosophiedozentin an der Hochschule in Kiew.

Dass meine Familie und ich nicht mehr in Kiew bleiben wollten, hatte mehrere Gründe. Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl im Frühling 1986 gab es für uns strenge Vorschriften: Wir sollten die Fenster möglichst nicht öffnen, täglich die Haare waschen und mehrmals am Tag die Böden wischen. Es gab einen Witz, der lautete: Dank des Reaktors in Block vier haben wir nun alle immer sauber geputzte Wohnungen. Bis heute gelten solche Einschränkungen.

Dazu kam, dass die Perestroika, auf die wir gehofft hatten, zuerst nur Chaos brachte: lange Warteschlangen, leere Geschäfte und viel Unzufriedenheit. Das führte zu wachsendem Antisemitismus, weil die Leute einen Sündenbock suchten. In Deutschland bin ich von Anfang an auf nette Menschen gestoßen. Auch über die schöne Landschaft war ich überrascht, vor allem über die Berge.

evakuierung Mein Leben war voller schwieriger Dinge, die überwunden werden mussten. Meine Eltern waren beide Ärzte, mein Vater arbeitete als Militärarzt. Dadurch bekam er im Krieg Evakuierungspapiere für mich und meine schwangere Mutter.
Im Sommer 1941 war ich neun Jahre alt und lebte vorübergehend in einem Kindersanatorium. Dort holte mich meine Mutter ab, und wir flohen ins Uralgebirge. Auf dem Weg dorthin, zusammengepfercht in Güterzügen und Schiffen, wurden wir mehrmals bombardiert. Panik brach aus, alle hatten Todesangst. Es war schlimm.

Im Ural blieben wir vier Jahre. Das war eine sehr schwere Zeit. Wir hatten ständig Hunger und magerten völlig ab. Wir hatten fast nur Kartoffelschalen zu essen. Es gab viele Krankheiten. Meine Mutter brachte dort meinen Bruder zur Welt, es ging ihr sehr schlecht. Sie hatte schwere Depressionen. Aber darüber will ich nicht sprechen. Als ich nach Kiew zurückkam, war ich 13 Jahre alt.

1959 lernte ich auf einer Geburtstagsparty meinen Mann Konstantin Lychakivski kennen. Er war Künstler und arbeitete in einem Verlag. Bei Kriegsende kam er als Soldat nach Berlin, er kannte Deutschland also schon ein bisschen. Er war kein Jude. Vor fünf Jahren ist er gestorben. Unser Sohn wohnt in Bonn.

jewtuschenko Nach dem Kriegsende lebten wir wieder in unserem Haus in Kiew. In der Schlucht von Babi Jar fanden wir Knochen von ermordeten Menschen, aber kein Mahnmal. Die sowjetische Regierung hat alles verheimlicht. Wir wussten zwar, dass dort Menschen ermordet worden waren, doch nicht, wie viele. Erst viel später haben wir erfahren, dass deutsche Soldaten und ukrainische Kollaborateure allein an zwei Septembertagen im Jahr 1941 mehr als 33.000 Menschen umgebracht hatten. Insgesamt gab es etwa 100.000 Tote.

Es wurde lange nicht darüber gesprochen, dass die Ermordeten Juden waren. Erst 1961, nach dem Gedicht »Babi Jar« des russischen Dichters Jewgeni Jewtuschenko, das Paul Celan ins Deutsche übersetzt hat, ließ sich das alles nicht mehr unterdrücken. Das Gedicht beginnt mit der Zeile: »Über Babi Jar steht kein Denkmal«. Genau so haben es damals viele von uns empfunden. Jewtuschenko hat damit einen Nerv getroffen.

antisemitismus Später habe ich Philosophie studiert. Davor und danach hatte ich die üblichen Probleme, die Juden in der Sowjetunion hatten: Ich musste kämpfen, um einen Studienplatz und später eine Arbeit zu bekommen. Dieser strukturelle Antisemitismus war fest verankert. Ich habe mich viel mit dem Antisemitismus beschäftigt. Er bleibt ein aktuelles Thema. Es gab ihn immer, in allen Ländern. Ich habe sehr viel über den Nationalsozialismus gelesen.

Wahrscheinlich weiß ich alles darüber. Aber ich hege keinen Hass, kein Rachegefühl. In Deutschland habe ich nur Freundlichkeit mir gegenüber erlebt. Zum Beispiel bei dem Pädagogen Clemens Rietmann, der früher in der Erwachsenen-Begegnungsstätte Weingarten gearbeitet hat. Er sagte einmal zu mir: »Wir Deutsche haben den jüdischen Menschen so viel Schmerzen und Unglück gebracht, darum sind wir glücklich, dass wir jetzt einige von ihnen hier bei uns empfangen können.«

Mit ihm zusammen habe ich den deutsch-russischen Klub Beseda gegründet. Wir treffen uns jeden Monat zu kulturellen und politischen Veranstaltungen, die zweisprachig sind. Früher haben wir auch Exkursionen und Reisen gemacht, aber inzwischen sind wir fast alle über 70, wir sind alt und krank. Außerdem gehe ich zu den Veranstaltungen in meiner Seniorenwohnanlage. Dort fühle ich mich sehr wohl und verstehe mich wirklich gut mit allen.

gemeinde Auch in der Synagoge der Israelitischen Gemeinde in Freiburg bin ich aktiv. Wenn ich dort Menschen treffe, die mit ihrem Leben in Deutschland nicht zufrieden sind, erzähle ich ihnen von unserem Klub Beseda und der guten Atmosphäre dort.

Dass ich selbst nie Antisemitismus in Deutschland erlebt habe, liegt wahrscheinlich daran, dass es hier nur noch sehr wenige Juden gibt und sie sich nicht offen zeigen. Und sie haben keine hohen Positionen, um die sie die anderen beneiden könnten.

Ich selbst bin Internationalistin. Mit dem Zionismus oder mit Nationalismus kann ich nichts anfangen. Eigentlich bin ich eine liberale Jüdin, aber obwohl es in Freiburg eine kleine liberale Gemeinde gibt, gehe ich trotzdem in die große orthodoxe Synagoge. Gut fände ich, wenn dort beide Strömungen gemeinsam unterkämen – alle unter einem Dach.

Manches am orthodoxen jüdischen Leben in Deutschland finde ich schlecht: Wer keine jüdische Mutter hat, sondern einen jüdischen Vater, wird von den Orthodoxen nicht als Jude anerkannt. Dadurch werden diese Leute zu Menschen zweiter Klasse, das ist nicht richtig. Und auch das orthodoxe Rollenbild von Frauen gefällt mir nicht. Orthodoxe Rabbiner dürfen Frauen nicht einmal die Hand geben. Das befremdet mich.

Aufgezeichnet von Anja Bochtler

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