NS-Raubkunst

»Es reicht!«

Ronald S. Lauder, Präsident des Jüdischen Weltkongresses Foto: Marco Limberg

Um das Thema der Nazi-Raubkunst anzugehen, berief das US-Außenministerium im Jahr 1998 eine Versammlung mit Landesvertretern aus aller Welt ein, aus der die Washingtoner Prinzipien hervorgingen. Im Rahmen dieser Prinzipien sollten Archive und Daten auf gestohlene Kunstwerke hin überprüft werden, um diese ihren rechtmäßigen Eigentümern zurückzugeben, um Provenienzforschung zu betreiben und Regeln für die Rückführung der gestohlenen Kunst aufzustellen. Insgesamt 44 Länder unterschrieben diese Vereinbarung vor 20 Jahren.

Doch seitdem ist die Situation unverändert. Die Tatsache, dass wir uns 73 Jahre nach Ende des Krieges und 20 Jahre nach den Washingtoner Prinzipien noch immer damit auseinandersetzen müssen, ist nicht akzeptabel und schädigt das Ansehen von Nachkriegsdeutschland.

mord Es ist nicht der Fehler einer einzelnen Person oder eines Amtes – es ist das ganze System. Im Deutschen haben Sie einen Ausdruck dafür, den es im Englischen nicht gibt: »Ankündigungspolitik«. Die Schuld daran tragen verschiedene Stellen: Regierungen, Museen, Sammler, Händler, die stumme Öffentlichkeit und sogar Lokalpolitiker wie beispielsweise Bürgermeister, die lang geplante Ausstellungen aus politischen Vorteilen oder aus anderen Gründen absagen.

Dies ist nicht nur ein deutsches Problem. Allerdings liegt klar auf der Hand, weshalb Deutschland bei der Lösungsfindung vorangehen sollte. Der Grund für unsere heutige Zusammenkunft ist der größte Kunstraub der Geschichte und im Zusammenhang damit der Mord an vielen der Eigentümer der Kunstwerke. Um es noch deutlicher auszudrücken: Hätte Nazi-Deutschland nicht so viele Kunstgegenstände aus jüdischen Händen gerissen, bräuchte ich diesen Text hier nicht schreiben.

Und wir wissen alle, dass das Jahr 1945 nicht den Endpunkt markiert. Nicht einmal annähernd. Menschen und Institutionen, die sich eigentlich als rechtschaffen und gut bezeichnet hätten, wollten die Kunstgegenstände lieber für sich behalten und verschlossen ihre Augen – sowohl während des Krieges als auch danach. Sie haben das Verbrechen damit fortgeführt. Die fortwährenden Auswirkungen des Nationalsozialismus verfolgen Deutschland weiterhin. Um Ihretwillen und unseretwillen muss das hier und heute enden.

Versprechen Es ist so einfach, zu versprechen, das Richtige zu tun. Ich weiß die Bemühungen von Staatsminister Michael Naumann, seinen Nachfolgern und vor allem Staatsministerin Monika Grütters zu schätzen. Aber können wir endlich mehr Resultate sehen? Ich warte bereits seit Jahren und sehe nichts, gar nichts. Die große Lücke zwischen offiziellen Aussagen und tatsächlichen Handlungen muss geschlossen werden. Deutschland hat so viel versprochen, aber bisher lediglich einen Mindestaufwand betrieben, um die Situation zu bereinigen.

In den Lagern der Museen und sogar manchmal an deren Wänden gibt es Kunst, die zwischen 1933 und 1945 aus jüdischen Haushalten geraubt wurde. Und obwohl einige Museen etwas Provenienzforschung geleistet haben, sind die Ergebnisse bisher leicht zu überschauen. Wir fragen nach. Wir erhalten Versprechungen. Aber wir sehen nichts. Ich glaube, dafür gibt es einen einfachen Grund: Die Kuratoren wollen die Kunstwerke nicht aufgeben, geschweige denn zugeben, dass die Sammlung ihrer Vorgänger aus geraubten Kunstobjekten besteht.

Wir wissen nicht, um wie viele Gemälde es sich genau handelt. Daher sollten Museen – ob auf Bundes-, Landes- oder Gemeindeebene – sowie private Sammlungen ihre gesamte ab 1933 erstandene Kunst dokumentieren und mit den Informationen zur Provenienz abgleichen. Jedes Museum sollte seine Kunst zusammen mit deren Provenienz auf seiner Webseite dokumentieren. Auf diesem Weg kann jeder überall nachvollziehen, was sich innerhalb der Wände der Museen befindet. Es gibt ausgebildete Provenienzforscher, die deutsche Museen und private Sammlungen bei dieser Arbeit unterstützen können. Auf sie sollte zurückgegriffen werden! Selbst wenn nur ein einziges Kunstwerk belastet ist, also geraubt wurde, wirft dies einen Schatten auf alles andere. Auch auf Deutschland.

Mandat Wir haben immer wieder zu hören bekommen, dass die Anliegen der Kläger ernst genommen werden. Die Reform der Limbach-Kommission war jedoch halbherzig und blieb unvollendet. Daher muss die Kommission nun entscheiden, wofür sie steht. Niemand wendet sich heutzutage an die Limbach-Kommission, da sie als nicht unabhängig und nicht unvoreingenommen gilt sowie ihr Mandat und ihre zugrundeliegenden Regeln unklar sind.

Darüber hinaus muss eine unabhängige Geschäftsstelle gegründet werden. Und es werden mehr finanzielle Mittel für die korrekte Durchführung benötigt. Anderenfalls überlassen wir das Problem der nachfolgenden Generation. Was jedoch zu Lebzeiten der Überlebenden schon längst hätte passieren müssen, darf nicht einfach von Generation zu Generation weitergeschoben werden.

Dies sind die Ausreden, die wir zu hören bekommen: Erstens, es sei ein Problem des Föderalismus, das heißt, es ist die Aufgabe von jemand anderem, eine Lösung für das Problem zu finden. Zweitens, es sei der Datenschutz, der es unmöglich mache, die Geschichte eines Bildes öffentlich zu machen. Manche Ergebnisse werden halb geschwärzt veröffentlicht. Was bedeutet das? Es wirkt, als sollte etwas verborgen bleiben. Darüber hinaus gibt es noch das Haushaltsrecht und das Stiftungsrecht, welche Restitution fast zu einem Ding der Unmöglichkeit machen. Und dann ist da noch die teils überbordende Bürokratie, die die Arbeit unendlich in die Länge zieht und es damit nahezu unmöglich macht, zu einem Ende zu kommen. Das Problem bleibt also weiterhin bestehen.

Irrsinn Dem Deutschen Zentrum Kulturgutverluste muss endlich ein besser definiertes Mandat erteilt werden. Zudem werden mehr Personal und Ressourcen zur Erledigung dieser Aufgabe benötigt. Es ist untragbar, dass es immer noch eine Diskussion darüber gibt, ob die Anfänge im Jahr 1933 oder 1935 liegen. Allein die Tatsache, dass wir diese Debatte überhaupt führen, ist irrsinnig und infam.

Als Präsident des Jüdischen Weltkongresses stehe ich für die Menschen, die davon betroffen sind, aber nicht hier in Deutschland leben. Deutschland muss die Zusammenarbeit mit Forschern in der ganzen Welt unterstützen. Die Bundesregierung muss Verantwortung übernehmen und das Thema zur obersten Priorität auf Landes- und Kommunalebene erklären. Schließlich geht es nicht allein um die Rückführung der Kunstwerke. Es geht um die »Wiedergutmachung« der Geschichte. Es geht um geschichtliche Ehrlichkeit und geschichtliche Gerechtigkeit.

Niemand in diesem Land darf die Schoa leugnen. Aber wenn die Situation sich nicht ändert, wenn Museen ein Kunstwerk zurückhalten, das einer jüdischen Familie geraubt wurde – ist dies etwa kein Akt der Leugnung? Deutschland hat seit 1945 viel Ehrlichkeit und Verantwortungsbewusstsein bewiesen, und das Land wird dafür entsprechend respektiert. Daher ist es unerlässlich, dass Deutschland auch in dieser Situation vorangeht und ein für alle Mal Klarheit schafft.

Aufklärung Es ist nicht unmöglich für Deutschland, dieses Problem zu lösen. Es ist machbar. Ich wünsche mir, bald einen Artikel schreiben zu können, in dem ich Deutschland für seine Führungsrolle, seine Vision und seinen Sinn für Gerechtigkeit danken kann.

Ich wünsche mir die Schlagzeile: »Nach mehr als 70 Jahren sagt Deutschland: Es reicht! Deutschland nimmt bei der Aufklärung der Diebstähle während der Nazizeit eine Führungsrolle ein.«
Mit diesen Botschaften könnte Deutschland die letzte offene Wunde des Zweiten Weltkriegs schließen, damit wir alle endlich wieder nach vorn blicken können. Es ist an der Zeit, dass Deutschland das Richtige tut.

Der Autor ist Präsident des Jüdischen Weltkongresses, Kunstsammler und Präsident des Museum of Modern Art (MoMA).

»Washingtoner Prinzipien«
Vor genau 20 Jahren unterschrieben Vertreter von Staaten, nichtstaatlichen Organisationen und jüdischen Opferverbänden die »Washingtoner Prinzipien«. Diese Selbstverpflichtung sieht vor, dass in der NS-Zeit beschlagnahmte Kunstwerke identifiziert und an die rechtmäßigen Erben zurückgegeben werden. Mit den Leitsätzen der »Washingtoner Konferenz über Vermögenswerte aus der Zeit des Holocaust« sollte den Opfern und deren Nachkommen doch noch zu ihrem Recht verholfen werden. Der vorliegende Text von Ronald S. Lauder ist eine leicht gekürzte und überarbeitete Version der Rede, die er vergangene Woche im Rahmen einer Veranstaltung der »Commission for Art Recovery« bei dem Medienunternehmen Axel Springer gehalten hat.

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