Bertha Pappenheim

Soziale Kämpferin und Feministin

Bertha Pappenheim (1859–1936) Foto: ullstein

Als Bertha Pappenheim am 28. Mai 1936 im Alter von 77 Jahren im hessischen Neu-Isenburg stirbt, ist die vom NS-System schwer drangsalierte jüdische Gemeinde zutiefst erschüttert. Mit der Frauenrechtlerin und Sozialarbeiterin sei »eine der stärksten Persönlichkeiten des deutschen Judentums verschieden«, klagte Rabbiner Leo Baeck. »Die Welt wird ärmer durch den Tod dieser Frau«, heißt es in einem Nachruf. Vor 110 Jahren, am 25. November 1907, hatte sie das Mädchenheim »Isenburg« gegründet.

Bertha Pappenheim, 1859 in Wien geboren, reicht die Rolle der »höheren Tochter« nicht, die ihr in die Wiege gelegt wird. Die begabte junge Frau ist unterfordert, leidet mit 21 Jahren an psychischen Problemen, wird »hysterisch«, wie es damals vage heißt. Pappenheim ist in Behandlung bei dem Wiener Internisten Josef Breuer. Später veröffentlicht Sigmund Freud ihren Fall als den der Patientin »Frl. Anna O.«. Sie geht in die Medizingeschichte ein.

hilfsprojekte 1888 zieht sie mit ihrer Mutter in deren Heimatstadt Frankfurt am Main. Bertha arbeitet in jüdischen Hilfsprojekten mit und ist im städtischen Armenamt aktiv. Sie engagiert sich für Verbesserungen im Jugendstrafrecht und für die Rechte lediger Mütter mit ihren unehelichen Kindern. Und die streitbare Sozialreformerin bekämpft mit aller Kraft den Mädchen- und Frauenhandel. 1904 gründet sie gemeinsam mit Sidonie Werner den »Jüdischen Frauenbund«.

1917 rügt Pappenheim in einem Zeitungsartikel die »gutherzige, kurzsichtige Regellosigkeit und Undiszipliniertheit, an denen der größte Teil der modernen jüdisch-sozialen Arbeit leidet«. Folge ihrer Intervention: Am 9. September 1917 wird die »Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden« in Berlin gegründet. Sie will die ungezählten Obdachlosenheime, Kinderhäuser und Mütter- und Säuglingsheime unter einem Dach professionell zusammenzuführen.

In Neu-Isenburg bietet der »Jüdische Frauenbund« seit November 1907 an der damaligen Taunusstraße Frauen ein Zuhause – zunächst sind es entwurzelte, osteuropäische Jüdinnen, die zur Prostitution aus ihren Herkunftsländern verschleppt wurden. Heimleiterin Pappenheim schafft familienähnliche Gruppen, sorgt für Wärme und Geborgenheit, Arbeit und Ausbildung.

»Das Isenburger Heim kennt keinen Luxus, keine gute Stube, keine moderne Bequemlichkeit«, heißt es in einem historischen Zeitungstext. Und über die pädagogische Arbeit ist zu lesen: »Das ganze Haus soll und muss Lehrmittel fürs Leben sein.«

zulauf Die Einrichtung erhält rasch Zulauf aus ganz Deutschland und entwickelt sich bis 1928 zu einem Komplex aus vier Gebäuden, in denen zeitweise mehr als 100 Menschen leben. Insgesamt rund 1750 Säuglinge, Kleinkinder, Kinder, junge Mädchen und Frauen werden hier betreut.

1927 beschreibt die Zeitschrift »Der Israelit« Pappenheims Haus: »Die Kinder jeglichen Alters – vom sechsten Lebensjahre ab nur Mädchen – haben hier ein liebevolles Heim, Logis, Verpflegung, Anleitung und Erziehung, wie man sie im vernünftigsten Elternhause nicht besser und zweckmäßiger Kindern bieten kann.«

Heute steht nur noch das 1914 gebaute Haus II. Es beherbergt auch die 1996 von der Stadt Neu-Isenburg eröffnete Gedenkstätte für Pappenheim. Um ein Projekt wie das Neu-Isenburger Heim in der damaligen Zeit realisieren zu können, habe die Chefin »vor allem geistige Unabhängigkeit, Beharrlichkeit und Überzeugungskraft« gebraucht, betont die Historikerin Heidi Fogel, die die Gedenkstätte mit konzipiert hat.

Ein zeitgenössischer Journalist schrieb über Pappenheim: »Ihre Worte sind phrasenlos, nicht laut, demutsvoll. Und doch fühlte man in ihren Worten das noch heute sprühende Temperament.« Ehemalige Heimbewohnerinnen beschrieben die Leiterin später sehr unterschiedlich: »Das Spektrum reicht von der Beurteilung als harte Frau bis hin zu grenzenloser Bewunderung«, sagt Fogel. Nach ihrer Einschätzung war Pappenheim »sicherlich streng, sehr direkt, aber auch ihren Schützlingen zugewandt und auf ihre individuelle Förderung bedacht«.

novemberpogrome Während der Novemberpogrome gegen Juden am 9. November 1938 – zwei Jahre nach Pappenheims Tod – brennen Bürger aus dem Ort Teile des weitläufigen Anwesens nieder. Helene Krämer, fünf Jahre lang Heimleiterin, erinnerte sich später: »Die Barbaren kamen mit Pechfackeln, riefen ›Öffnet, wir bringen euch Fleisch‹, drangen in das überfüllte Haus, schrien ›Juden heraus!‹. Wir standen (...) über eine Stunde in der kalten Winternacht im Garten bei dem grausigen Anblick des Brandes des Hauses und dem Knistern der alten Bäume. (...) Die Feuerwehr kam erst sehr spät. Das Heim brannte und glimmte noch am nächsten Tag.«

Die jungen Frauen und Kinder leben danach in großer Not und in ständiger Angst vor weiteren Übergriffen. Am 31. März 1942 wird das Heim aufgelöst. Viele Kinder werden verschleppt und sterben im Ghetto Theresienstadt, ebenso die verbliebenen Erzieherinnen. Sophie Sondhelm, die letzte Leiterin des Heims »Isenburg«, wird am 10. Februar 1943 nach Theresienstadt deportiert. Von dort kommt sie nach Auschwitz.

Pessach

Vertrauen bewahren

Das Fest des Auszugs aus Ägypten erinnert uns daran, ein Leben in Freiheit zu führen. Dies muss auch politisch unverhandelbare Realität sein

von Charlotte Knobloch  22.04.2024

Pessach

Das ist Juden in Deutschland dieses Jahr am wichtigsten

Wir haben uns in den Gemeinden umgehört

von Christine Schmitt, Katrin Richter  22.04.2024

Bayern

Gedenkveranstaltung zur Befreiung des KZ Flossenbürg vor 79 Jahren

Vier Schoa-Überlebende nahmen teil – zum ersten Mal war auch der Steinbruch für die Öffentlichkeit begehbar

 21.04.2024

DIG

Interesse an Israel

Lasse Schauder über gesellschaftliches Engagement, neue Mitglieder und die documenta 15

von Ralf Balke  21.04.2024

Friedrichshain-Kreuzberg

Antisemitische Slogans in israelischem Restaurant

In einen Tisch im »DoDa«-Deli wurde »Fuck Israel« und »Free Gaza« eingeritzt

 19.04.2024

Pessach

Auf die Freiheit!

Wir werden uns nicht verkriechen. Wir wollen uns nicht verstecken. Wir sind stolze Juden. Ein Leitartikel zu Pessach von Zentralratspräsident Josef Schuster

von Josef Schuster  19.04.2024

Sportcamp

Tage ohne Sorge

Die Jüdische Gemeinde zu Berlin und Makkabi luden traumatisierte Kinder aus Israel ein

von Christine Schmitt  18.04.2024

Thüringen

»Wie ein Fadenkreuz im Rücken«

Die Beratungsstelle Ezra stellt ihre bedrückende Jahresstatistik zu rechter Gewalt vor

von Pascal Beck  18.04.2024

Berlin

Pulled Ochsenbacke und Kokos-Malabi

Das kulturelle Miteinander stärken: Zu Besuch bei Deutschlands größtem koscheren Foodfestival

von Florentine Lippmann  17.04.2024